Dr. Katharina Kellmann

Die deutsch-englische Flottenrivalität

Die deutsch-englische Flottenrivalität wird oft erwähnt, wenn es um die Ursachen des Ersten Weltkrieges geht. Warum entschloss sich die deutsche Regierung zum Bau einer großen Flotte? Welche Auswirkungen gab es auf das deutsch-britische Verhältnis?

Inhaltsverzeichnis:

Der Beginn der deutsch-englischen Flottenrivalität
Die Spannungen wachsen
Die englische Flottenpanik
Flottenabkommen oder Rüstung
Das Flottengesetz von 1912
Die „Haldane-Mission“
Die deutsch-englische Flottenrivalität im Urteil von Historikern

Der Beginn der deutsch-englischen Flottenrivalität

Am Ende des 19. Jahrhunderts nahm Deutschland in der Außen- und der Flottenpolitik eine Kurswende vor. Im Reichstag bekannte sich der Staatssekretär des Äußeren, von Bülow, zur sogenannten „Weltpolitik“. Dahinter stand der Anspruch des Kaiserreiches, in internationalen Angelegenheiten als Großmacht konsultiert werden zu müssen. Im Reichstag sagte Bülow am 6. Dezember 1897 anlässlich einer Debatte über die Pacht eines Hafens in China:

„Mit einem Wort: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“(1).

Linienschiff „Wittelsbach“. Das Schiff wurde im Rahmen des Flottenprogramms von 1898 auf Kiel gelegt (Bundesarchiv, DVM 10 Bild-23-61-16 / CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons).

Ein Jahr später beschloss eine Mehrheit des Reichstages ein neues Flottenbauprogramm, dem 1900 eine zweite Flottennovelle folgte. Das Ziel war eine deutlich vergrößerte Marine mit 36 Linienschiffen (2).

Deutschland, traditionell eine Landmacht mit einem starken Heer, schickte sich an, in den Kreis der großen Flottenmächte vorzustoßen. Kaiser Wilhelm II. war davon überzeugt, dass Deutschland ohne eine starke Marine nicht zu den Großmächten gehören würde. Er und viele Befürworter einer Schlachtflotte folgten den Theorien des amerikanischen Admirals Alfred Thayer Mahans, wonach die Stellung eines Landes in der Welt auch von seinen Seestreitkräften abhängen würde (3).

Der Staatssekretär im Reichsmarineamt, Konteradmiral Alfred von Tirpitz, gehörte zu den ‚geistigen Vätern‘ der neuen deutschen Flotte (4). Da Deutschland nur über wenige Kolonien verfügte und in Übersee kein dichtes Netz von Stützpunkten aufbauen konnte, konzipierte Tirpitz eine Flotte mit Linienschiffen. Der Radius dieser Einheiten war auf die Nordsee begrenzt.

Tirpitz gilt als der Schöpfer der deutschen Hochseeflotte. Er lehnte Zugeständnisse beim Flottenbau ab und trug so zur deutsch-englischen Flottenrivalität bei (Quelle: Bundesarchiv, Bild 134-C1743 / CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons).

Die maritime Aufrüstung richtete sich gegen England (5). London sollte Berlin als gleichrangigen Partner überall auf der Welt akzeptieren (6). Offiziell war von der „Risiko-Flotte“ die Rede. Für die stärkste Flottenmacht der Welt, England, sollte ein Angriff auf die deutsche Küste oder eine Blockade zum Risiko werden (7). Daneben gab es noch innenpolitische Motive für die maritime Aufrüstung: In der Führung des Reiches ging man davon aus, dass die Marine den Interessen des Bürgertums und der ostelbischen Agrarier dienen würde (8).

In der Wilhelmstraße, dem Sitz des Auswärtigen Amtes, war man davon überzeugt, dass England über kurz oder lang auf Deutschland zukommen müsse, da die Meinungsverschiedenheiten zwischen London, Paris und Sankt Petersburg zu groß wären, als dass es zu einer engen Zusammenarbeit der drei Mächte käme. Der Kaiser und die führenden Politiker des Reiches glaubten, sich eine „Politik der freien Hand“ leisten zu können (9). Als die englische Regierung 1898 in Berlin wegen eines Bündnisses vorfühlte, reagierte die Reichsregierung kühl. Deutschland wäre nur zu einer festen Bindung bereit gewesen, wenn sich London dem Dreibund, bestehend aus Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien angeschlossen hätte. So weit wollte man in London nicht gehen (10).

1904 legte England seine kolonialpolitischen Differenzen mit Frankreich bei. Drei Jahre später folgte der Ausgleich mit Russland. Die Politik der „freien Hand“ war gescheitert. Der deutsche Flottenbau gab dazu nicht den Anlass, doch er führte dazu, dass sich das Verhältnis zwischen den beiden Ländern verschlechterte (11).

Die englische Marinerüstung ging vom „Two-Power-Standard“ aus: Die britische Marine sollte so stark sein wie die zweit- und drittstärkste Flotten zusammen. Das deutsche Flottenprogramm blieb zwar hinter der Stärke der Royal Navy zurück, stellte die englische Regierung aber trotzdem vor große Probleme, zumal die deutschen Schiffe in der Nordsee konzentriert waren, während die Royal Navy das britische Weltreich schützen musste (12).

Imperialistische Machtpolitik wurde auch von England, Frankreich, Russland, Italien oder Österreich-Ungarn getrieben. Die deutsche Reichseinigung 1871 hatte jedoch die politischen Verhältnisse in Europa verändert (13). Nun schien das junge Kaiserreich, eine aufstrebende Industrienation, auf der ganzen Welt als Störenfried auftreten zu wollen. Im Ausland irritierte die Sprunghaftigkeit der deutschen Außenpolitik, die eines „konstruktiven Charakters ermangelte“ (14). Dies rief in den europäischen Hauptstädten Misstrauen hervor.

Die Spannungen wachsen

Als es 1905 zwischen Frankreich und Deutschland wegen der Einflusszonen im Sultanat Marokko zu einer schweren Krise kam, stellte sich London an die Seite von Paris. Ab 1906 wurde die Flottenrüstung zu einem großen Problem im Verhältnis England-Deutschland (15).

1906 bewilligte der Reichstag sechs neue Schlachtkreuzer. Zwei Jahre später folgte eine Flottennovelle, die das Bautempo auf vier Schiffe pro Jahr steigerte und die Dienstzeit eines Schiffes auf zwanzig Jahre reduzierte.

1908 belastete die Bosnische Krise zusätzlich das Verhältnis zwischen London und Berlin. Österreich-Ungarn, der letzte dem Reich verbliebene Verbündete, annektierte am 5. Oktober 1908 die zum Osmanischen Reich gehörenden Provinzen Bosnien und Herzegowina. Die Maßnahme veränderte die Machtverhältnisse auf dem Balkan; auch russische Interessen waren davon berührt. Dank der Unterstützung Berlins konnte sich Wien im Frühjahr 1909 endgültig durchsetzen; das Zarenreich musste einen Rückzieher machen. England stellte sich hinter seinen Verbündeten, aber in Sankt Petersburg wollte man keinen Krieg riskieren (16).

Reichskanzler Bülow war trotz des vordergründigen diplomatischen Erfolgs darüber besorgt, dass sich die Bande zwischen Russland und England gefestigt hatten (17). Der deutsche Botschafter in London, Graf Metternich, hatte schon im November 1908 daraufhin gewiesen, dass nur die deutschen Flottenbaupläne das Verhältnis der beiden Länder belasten würden:

„Es ist nicht die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, welche unser Verhältnis von Jahr zu Jahr verschlechtert, sondern es ist die Zunahme unserer Flotte“ (18).

Bülow war 1909 zu Abstrichen am Flottenbau bereit, doch Tirpitz drohte mit Rücktritt und konnte sich durchsetzen (19).

Die englische Flottenpanik von 1909

Wie angespannt die Beziehungen waren, zeigte die Flottenpanik von 1909 in England. Es ging das Gerücht um, die deutsche Marine sei stärker als offiziell angegeben (20). Die englische Regierung hielt es für möglich, dass „die deutsche Hochseeflotte bis 1912 den 16 britischen sogar 21 Großkampfschiffe entgegensetzen“ könnte (21). Dieses Szenario entsprach nicht den Tatsachen. Im Parlament und in der Bevölkerung stimmte man darin überein, dass nur die Vorherrschaft zur See die Unabhängigkeit des Landes garantierte (22). Außenminister Grey sagte am 29. März 1909 im Unterhaus: „Unsere Marine bedeutet uns, was ihnen (den Deutschen, die Verfasserin) die Armee bedeutet“ (23). Charles Hardinge, Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium, hatte gegenüber dem deutschen Kaiser im August 1908 betont, dass „die Vorherrschaft Großbritanniens zur See jetzt ein Hauptgrundsatz der britischen Politik geworden sei.“ (24)

London hoffte daher auf eine Änderung der deutschen Flottenpläne, denn die regierenden Liberalen wollten die Ausgaben für die Rüstung kürzen (25). In Deutschland zeigte sich Reichskanzler Bülow Anfang im Juni 1909 für entsprechende Vorschläge offen, da die außenpolitische Situation des Reiches immer kritischer wurde (26). Das Kaiserreich sah sich einer „Triple-Entente“ aus Frankreich, England und Russland gegenüber. Bülow hoffte, mit London zu einem Ausgleich zu kommen. Voraussetzung dafür war eine Einigung in der Flottenfrage. Doch Kaiser Wilhelm und der Staatssekretär im Reichsmarineamt, von Tirpitz, lehnten jedes Entgegenkommen ab. Der Admiral beharrte darauf, dass nur eine konsequente Fortsetzung der maritimen Rüstung England zum Einlenken zwingen würde (27).

Doch in London reagierte man anders, als sich Tirpitz das vorgestellt hatte. Im Juli 1909 stimmte das Unterhaus dem Bau von acht neuen Schlachtschiffen zu. Das Wettrüsten zwischen England und Deutschland zur See ging in die nächste Runde.

Flottenabkommen oder Rüstung

Am 7. Juli 1909 wurde Theobald von Bethmann-Hollweg zum Reichskanzler ernannt. Zusammen mit dem neuen Staatssekretär des Äußeren, Alfred von Kiderlen-Wächter, wollte er die Beziehungen zu England verbessern (28). Dafür war er bereit, London bei der maritimen Rüstung entgegenzukommen. Im Auswärtigen Amt, dass den Flottenbau zuerst unterstützt hatte, waren die Zweifel am politischen Ziel der „Risikoflotte“ gewachsen. Der außenpolitische Spielraum des Reiches war enger geworden. Auch in England war man grundsätzlich bereit, über die Flottenrüstung eine Einigung zu erzielen (29).

Die Befürworter einer solchen Verständigung im Auswärtigen Amt vertraten die Ansicht, dass man das Gefühl der Bedrohung durch die Flotte in England für eine Annäherung nutzen sollte mit dem Ziel, einen Keil in die Triple-Entente zu treiben. Für das „vereinsamte Deutschland“ war dies zu einer „Lebensfrage“ geworden (30). Das Verhältnis zu Frankreich war durch die Annexion von Elsass-Lothringen und das Streben der französischen Außenpolitik nach Revanche zerrüttet. Zwischen Deutschland und Russland gab es keine Grenzkonflikte oder kolonialpolitische Rivalitäten, aber der Zweibund Berlin-Wien führte dazu, dass das krisenhafte Verhältnis zwischen der Donaumonarchie und dem Zarenreich auch die deutsch-russischen Beziehungen belastete. Nicht England musste sich um Deutschland bemühen – Berlin war auf London angewiesen (31).

Auch Kaiser Wilhelm II. schien einem Flottenabkommen 1909 positiver gegenüberzustehen (32).
Im Reichsmarineamt hingegen beurteilten Tirpitz und seine Berater die Situation ganz anders. In ihren Augen war die in England zu beobachtende Sorge wegen des deutschen Flottengesetzes ein Grund dafür, nun erst recht auf die Ausführung des Schiffbauprogramms zu bestehen.

Das deutsche Flottengesetz von 1912

In der zweiten Marokkokrise von 1911 musste das Deutsche Reich wieder eine empfindliche Schlappe hinnehmen (33). London hatte erneut für Frankreich Stellung bezogen.

Tirpitz wollte die antibritische Stimmung nutzen, um eine zusätzliche Flottennovelle durch den Reichstag zu bringen (34). Reichkanzler Bethmann-Hollweg stellte in einem Telegramm an den deutschen Botschafter vom 22. November 1911 klar, dass er ein Gegner der neuen Flottenvorlage sei. Allerdings könne er den Kaiser nur dann überzeugen, wenn England zu einem politischen Abkommen bereit wäre (35).

Auf beiden Seiten setzten sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens für weitere Gespräche ein. Sir Ernest Cassel, ein in Deutschland geborener britischer Geschäftsmann, und der deutsche Reeder Albert Ballin warben für eine Verständigung zwischen London und Berlin (36). Beide kannten Wilhelm II. persönlich. Cassel sondierte bei Bethmann-Hollweg. So entstand die Idee eines persönlichen Meinungsaustausches auf Ministerebene (37).

Die englische Regierung entschied sich dafür, Kriegsminister Richard Haldane nach Berlin zu schicken. Er sprach deutsch, hatte in Göttingen studiert und verfügte über gute Kontakte nach Deutschland. Haldane sollte in inoffizieller Mission reisen. Sein Auftrag bestand darin, die deutsche Regierung über die Absichten des britischen Kabinetts zu unterrichten und „Material nach London zurückzubringen, auf Grund dessen endgültige Beschlüsse gefasst werden könnten“ (38). Haldane besaß keine Vollmacht zum Abschluss eines Vertrages.

Wilhelm II. bereitete sich intensiv auf den Besuch vor. Im Herbst 1911 machte der Kaiser deutlich, dass er nur im Falle einer englischen Neutralität bereit wäre, auf die Flottennovelle zu verzichten (39). Bethmann-Hollweg unterbreitete dem Monarchen am 10. Januar 1912 einen Vorschlag, der im Sinne der von Graf Metternich verfolgten Annäherung zwischen den beiden Mächten lag. Der Reichskanzler schlug einen Verzicht auf weitere Linienschiffe vor, den er mit der Aussicht auf die Vergrößerung des deutschen Kolonialbesitzes – im Einvernehmen mit London – dem Kaiser schmackhaft machen wollte (40).

Die „Haldane-Mission“

Haldane traf am 8. Februar 1912 in Berlin ein. Er kam nicht in seiner Eigenschaft als Kriegsminister, sondern als Vorsitzender einer Kommission der Londoner Universität, der sich über die technische Hochschulbildung in Deutschland informieren wollte.

Wilhelm II. war neben Tirpitz die treibende Kraft im deutschen Flottenbau. Fotografie eines Gemäldes von Adolph Behrens. Das Gemälde hängt heute noch in der Marineschule in Kiel (Wikimedia Commons).

Zuerst traf Haldane in der englischen Botschaft mit Reichskanzler Bethmann-Hollweg zusammen. Das Gespräch verlief in einer guten Atmosphäre. Haldane wies auf die Bedeutung der Marine für England hin und warf die Frage auf, warum Deutschland eine starke Flotte benötigte. Der britische Kriegsminister schlug vor, das Bauprogramm nicht so schnell umzusetzen. Bethmann-Hollweg deutete seine Bereitschaft zu einem Entgegenkommen an, ließ aber keinen Zweifel daran, dass Großadmiral Tirpitz ein schwieriger Verhandlungspartner sein würde (41).

Am nächsten Tag, den 9. Februar 1912, trafen sich der Kaiser, Haldane und Tirpitz. Kaiser Wilhelm war aufgrund des Berichts von Bethmann-Hollweg optimistisch und hoffte auf den Abschluss des angestrebten Abkommens (42).

Das Gespräch im Berliner Stadtschloss verlief ebenfalls in einer angenehmen Atmosphäre und dauerte drei Stunden. Über den Verlauf und das Ergebnis gibt es zwei unterschiedliche Darstellungen.
Haldane betonte in seinen Erinnerungen, dass Wilhelm II. auf ihn den Eindruck eines Mannes machte, der eine Einigung anstrebte, während Tirpitz sich zurückhaltender gab (43). Der britische Kriegsminister stellte klar, dass der deutsche Flottenbau England dazu zwingen würde, immer mehr Schiffe zu bauen (44). In seinen Erinnerungen heißt es:

„Wir kamen dann auf den Gedanken, in einem eventuell abzuschließenden allgemeinen Abkommen den beiderseitigen Flottenstandard und die Schiffsbaufrage überhaupt nicht zu erwähnen; der Kaiser sollte, wenn der Abschluss eines umfassenden Abkommens gelänge, verkünden, dass seine ursprünglichen Ansichten über das neue Flottengesetz sich von Grund auf verändert hätten; das Inkrafttreten des Gesetzes müßte daher verzögert und das Tempo des Schiffbaus verlangsamt werden.“ (45).

Aufschlussreich ist die Wiedergabe eines Gesprächs, das der Kaiser anschließend mit dem Chef des Marinekabinetts, Admiral von Müller, führte. Er erwähnte die „Dickköpfigkeit“ von Tirpitz, die das Gespräche behindert hätte:

„Da sprang ich ein u. sagte, wir wollten doch das rein Politische von dem Marinepolitischen trennen. Die Novelle müsse, so wie sie ist eingebracht werden, aber wenn die politische Entente da sei, so kann ich als allerh. Kriegsherr ja sagen, jetzt hat es mit der Schaffung des III. Geschwaders nicht solche Eile u. wir werden also die benötigten Schiffe langsamer bauen, 1913 das erste, 1916 das zweite u. 1919 das dritte.“ (46).

Den Reichskanzler ließ er am Abend wissen, dass die Besprechung einen guten Verlauf genommen hätte (47). Albert Ballin teilte er mit, dass eine Einigung mit England erzielt worden sei (48). Wilhelm II. folgte seiner Neigung zum Wunschdenken und ging davon aus, dass das britische Kabinett das Ergebnis der Unterredung akzeptieren würde.

Haldane kehrte nach England zurück; im Gepäck hatte er einen von Kaiser Wilhelm überreichten Entwurf für das deutsche Flottengesetz. Der Text der Flottennovelle rief jedoch in der Admiralität große Besorgnisse hervor (49). Dabei irritierte nicht die Zahl der Großkampfschiffe, sondern der Bau von 72 neuen Unterseebooten und die deutliche Vergrößerung des Personals der Marine (50). Dies war für England nicht akzeptabel.

Außenminister Grey informierte den deutschen Botschafter in London, der das Auswärtige Amt in Kenntnis setzte. Wilhelm II. war empört (51).

Aber selbst gravierende Zugeständnisse beim Flottenbau hätten England nicht dazu veranlasst, die vom Kaiser gewünschte Neutralitätserklärung im Falle eines Krieges in Europa abzugeben. London fürchtete eine deutsche Hegemonie auf dem Kontinent. Der Verlauf der „Haldane-Mission“ machte zudem deutlich, dass es auf deutscher Seite keine klare Linie gab. Bethmann-Hollweg, der verantwortliche Leiter der Reichspolitik, war zu einem Abkommen bereit. Der Staatssekretär im Reichsmarineamt, Tirpitz, vermochte sich bei Wilhelm II. durchzusetzen. Diese Meinungsverschiedenheiten blieben den Engländern nicht verborgen (52).

Die deutsch-englische Flottenrivalität – ein kontrovers diskutiertes Thema

In der deutschen Geschichtswissenschaft dominiert die Einschätzung, dass der von Tirpitz initiierte Flottenbau ein gravierender Fehler war (53). Mittlerweile melden sich aber auch Historiker zu Wort, die dem deutschen Flottenbau keinen entscheidenden Einfluss auf das deutsch-britische Verhältnis einräumen. Christopher Clark legte in seinem Buch „Die Schlafwandler“ eine Einschätzung vor, die in Deutschland heftigen Widerspruch hervorrief:

„Man kann an der deutschen Seekriegsstrategie vieles kritisieren. Am schwersten wog wohl, dass sie nicht in ein breites politisches Konzept eingebettet war, das über das Streben nach freier Hand in der Weltpolitik hinaus ging. Aber das neue Flottenprogramm war weder ein empörender noch ein ungerechtfertigter Schritt. Die Deutschen hatten allen Grund zu der Annahme, das man sie nicht ernstnehmen würde, wenn sie sich nicht eine starke Seestreitkraft verschafften. Immerhin schlugen die Briten in der Korrespondenz mit den Deutschen gewohnheitsmäßig einen recht herrischen Ton an“ (55).

Auf Grund gelaufen: Das Ende der deutsch-englischen Flottenrivalität. Der Schlachtkreuzer Hindenburg in Scapa Flow 1919 (Wikimedia Commons).

Rainer F. Schmidt spricht in „Kaiserdämmerung“ von einer „Funktionalisierung der deutschen Gefahr“ in England; eine These, die sein Kollege Gustav Schmidt schon 1972 vertreten hatte (55).

Diese Neubewertungen rufen bei einigen deutschen Historikern Abwehrreflexe hervor. Dabei stellen weder Clark noch Schmidt der Außenpolitik des wilhelminischen Deutschlands ein gutes Zeugnis aus. Aber seit der „Fischer-Kontroverse“ gilt es als herrschende Meinung, dass das deutsche Kaiserreich eine verhängnisvolle Rolle in der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges gespielt hat.

<Fischer Kontroverse: Der Hamburger Historiker Fritz Fischer löste mit mehreren Veröffentlichungen zur Rolle Deutschlands beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu Beginn der sechziger Jahre eine über das Fach hinaus reichende Diskussion über den Charakter der wilhelminischen Außenpolitik aus. Fischer vertrat die These, dass Deutschland für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein großes Maß an Verantwortung trägt, was heftigen Widerstand unter seinen Kollegen hervorrief. Seine nicht unumstrittenen Arbeiten sollten die deutsche Forschung über den Ersten Weltkrieg und das Kaiserreich dennoch stark beeinflussen.(56)

Natürlich müssen auch die Standpunkte von Clark oder Schmidt kritisch hinterfragt werden. Dass Deutschland auf eine Marine angewiesen war, die die Küsten gegen eine Blockade im Kriegsfall schützen konnten, hatte der Krieg gegen Frankreich 1870/71 gezeigt. Das erste Flottenbaugesetz von 1898 schuf die Grundlage für die Modernisierung der veralteten kaiserlichen Flotte. Aber das zweite Flottengesetz ging über einen offensiven Küstenschutz hinaus.

Dass England gegenüber Deutschland einen zuweilen anmaßenden Ton einnahm, mag zutreffen. Doch Berlin hatte seine Position in Europa durch die Nichtverlängerung des Rücksicherungsvertrages mit Russland geschwächt (57).

Deutschland überschätzte zumindest im ersten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts seine Möglichkeiten. Es wollte „Weltpolitik“ treiben, ohne zu berücksichtigen, dass dies eine gefestigte Position in Europa voraussetzte (58). Nach dem französisch-russischen Bündnis musste man in Berlin jedoch mit einem Zweifrontenkrieg rechnen. Das Flottenbauprogramm band finanzielle Summen, die für das Heer fehlten. England konnte seinen Vorsprung im Flottenbau verteidigen. Die Lage Deutschlands in der Mitte des Kontinents begrenzte die machtpolitischen Möglichkeiten des Reiches. Angesichts des französischen Strebens nach Revanche für die 1871 erlittene Niederlage und der wachsenden Distanz zu Russland war es politisch unklug, England herauszufordern (59).

Im Ersten Weltkrieg spielte die deutsche Hochseeflotte keine entscheidende Rolle. Zur größten Gefahr für England wurden die deutschen Unterseeboote. Nach dem Waffenstillstand im November 1918 mussten die Deutschen die Hochseeflotte ausliefern und im englischen Flottenstützpunkt Scapa-Flow internieren lassen. Am 21. Juni 1919 versenkten die deutschen Besatzungen ihre Schiffe.
Deutsch-Englische Rivalitäten werden heute zum Glück nur noch auf dem Fußballfeld ausgetragen.

Endnoten:

(1) Bernhard von Bülow als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes am 6. Dezember 1897 im Reichstag, zitiert nach: Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich. Ein historisches Lesebuch, 4. durchgesehene Aufl., Göttingen 1981, S. 301
(2) vgl. Karl Erich Born, Von der Reichsgründung zum Ersten Weltkrieg, 11. Aufl., München 1986, S. 209
(3) vgl. Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreiches 1871 – 1918, München 2020, S. 337
(4) vgl. Rainer F. Schmidt, Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang, Stuttgart 2021, S. 405
(5) vgl. Alexander Keßler, Das deutsch-englische Verhältnis vom Amtsantritt Bethmann-Hollwegs bis zur Haldane-Mission, Erlangen 1938, S. 5.
(6) vgl. Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert, S. 316
(7) vgl. Born, Reichsgründung, S. 209
(8) vgl. Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert, S. 341
(9) vgl. Michael Stürmer, Deutscher Flottenbau und europäische Weltpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Die deutsche Flotte im Spannungsfeld der Politik 1848 – 1985, Herford 1985, S. 53 – 77, hier: S. 62
(10) vgl. Born, Reichsgründung, S. 212; Winfried Baumgart, Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890 – 1914. Grundkräfte, Thesen und Strukturen, 4. ergänzte Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982, S. 97
(11) vgl. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, 10. Aufl., Stuttgart 2013, S.205)
(12) vgl. John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900 – 1941, München 2008, S. 678
(13) vgl. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt/M. 1991, S. 322
(14) Keßler, Das deutsch-englische Verhältnis, S. 4
(15) vgl. Ebenda, S. 107
(16) vgl. Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 2. Aufl., Stuttgart 1996, S. 246
(17) vgl. Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, Band 3: Das Zeitalter Wilhelms II. Frankfurt 1930, S. 211).
(18) Dokument Nr. 10234 in: Große Politik, Band 28, S. 19
(19) vgl. Ziekursch, Kaiserreich, S. 211
(20) vgl. Keßler, Das deutsch-englische Verhältnis, S. 22
(21) Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/m. 1993, S. 509
(22) vgl. Kurt Kluxen, Geschichte Englands. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., Stuttgart 1985
(23) zitiert nach Massie, Schalen des Zorns, S. 515
(24) zitiert nach Röhl, Weg in den Abgrund, S. 682
(25) vgl. Ebenda, S. 678
(26) vgl. Ziekursch, Kaiserreich S. 212
(27) vgl. Ebenda, S. 212
(28) vgl. Schmidt, Kaiserdämmerung, S. 464
(29) vgl. Keßler, Das deutsch-englische Verhältnis, S. 34
(30) vgl. Ebenda, S. 10
(31) vgl. Ebenda, S. 9
(32) vgl. Ebenda, S. 31
(33) vgl. Günter Wollstein, Theobald von Bethmann-Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende, Göttingen, Zürich 1995, S. 68
(34) vgl. Röhl, Weg in den Abgrund, S. 865
(35) vgl. Dokument Nr. 11321 in: Große Politik, Band 28, S. 31
(36) vgl. Massie, Schalen des Zorns, S. 676
(37) vgl. Richard Haldane, Erinnerungen aus meinem Leben, Berlin, Leipzig 1930, S. 210
(38) Ebenda, S. 211
(39) vgl. Röhl, Weg in den Abgrund, S. 891
(40) vgl. Röhl, Ebenda, S. 895
(41) vgl. Massie, Schalen des Zorns, S. 684
(42) vgl. Ebenda, S. 684
(43) vgl. Haldane, Erinnerungen, S. 212
(44) vgl. Ebenda, S. 213
(45) Ebenda, S. 214
(46) Röhl, Weg in den Abgrund, S. 903
(47) vgl. Ebenda
(48) vgl. Ebenda, S. 904
(49) vgl. Haldane, Erinnerungen, S. 215
(50) vgl. Massie, Schalen des Zorns, S. 688
(51) vgl. Röhl, Weg in den Abgrund, S. 908
(52) Andreas Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871 – 1945, Düsseldorf 1980, S. 40
(53) vgl.  Röhl, Weg in den Abgrund, S. 510
(54) Winfried Baumgart, Imperialismus, S. 63
(55) Clark, Schlafwandler, S. 204

(56) vgl. Ribhegge, Frieden in Europa, S. 3

(57) Schmidt, Kaiserdämmerung, S. 422; Gustav Schmidt, Rationalismus und Irrationalismus in der englischen Flottenpolitik, in: Herbert Schottelius, Wilhelm Deist (Hrsg.), Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871 – 1914, Düsseldorf 1972, S. 283 – 295, hier: S. 289
(58) vgl. Schmidt, Kaiserdämmerung, S. 345
(59) vgl. Kurt Riezler, Probleme deutscher Weltpolitik in: Ritter, Kaiserreich, S. 351 – 353, hier: S. 353
(60) vgl. Stürmer, deutscher Flottenbau, S. 61

Nachweis für das Beitragsbild: Wikimedia Commons

Weiterführende Informationen:

LeMO Kaiserreich – Außenpolitik – Flottenbau (dhm.de)

Die zweite Marokkokrise — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

Wilhelm II. – der letzte deutsche Kaiser — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

Bernhard von Bülow: kein zweiter Bismarck — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

 

Gedruckte Quellen:

Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Das deutsche Kaiserreich. Ein historisches Lesebuch, 4. durchgesehene Aufl., Göttingen 1981

Johannes Lepsius, Albrecht Mendelssohn Bartholdy, Friedrich Thimme (Hrsg.): Die große Politik der europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes. Band 28: England und die deutsche Flotte 1908-1911, 2. Aufl., Berlin 1927 (Online Ressource der Universitäts- und Stadtbücherei Köln).

Literaturliste:

Winfried Baumgart, Deutschland im Zeitalter des Imperialismus 1890 – 1914. Grundkräfte, Thesen und Strukturen, 4. ergänzte Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982

Karl Erich Born, Von der Reichsgründung zum Ersten Weltkrieg, 11. Aufl., München 1986

Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, 10. Aufl., Stuttgart 2013

Richard Haldane, Erinnerungen aus meinem Leben, Berlin, Leipzig 1930

Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 2. Aufl., Stuttgart 1996

Andreas Hillgruber, Die gescheiterte Großmacht. Eine Skizze des Deutschen Reiches 1871 – 1945, Düsseldorf 1980

Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt/M. 1991

Alexander Keßler, Das deutsch-englische Verhältnis vom Amtsantritt Bethmann-Hollwegs bis zur Haldane-Mission, Erlangen 1938

Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., Stuttgart 1985

Robert K. Massie, Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M. 1993

Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des deutschen Kaiserreiches 1871 – 1918, München 2020

Wilhelm Ribhegge, Frieden in Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917/18, Berlin 1988

John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1900 – 1941, München 2008

Gustav Schmidt, Rationalismus und Irrationalismus in der englischen Flottenpolitik, in: Herbert Schottelius, Wilhelm Deist (Hrsg.), Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871 – 1914, Düsseldorf 1972, S. 283 – 295

Rainer F. Schmidt, Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang, Stuttgart 2021

Michael Stürmer, Deutscher Flottenbau und europäische Weltpolitik vor dem Ersten Weltkrieg, in: Die deutsche Flotte im Spannungsfeld der Politik 1848 – 1985, Herford 1985, S. 53 – 77

Günter Wollstein, Theobald von Bethmann-Hollweg. Letzter Erbe Bismarcks, erstes Opfer der Dolchstoßlegende, Göttingen, Zürich 1995

Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches, Band 3: Das Zeitalter Wilhelms II. Frankfurt 1930