Dr. Katharina Kellmann

Walter Warlimont – der „Unbeteiligte“

Wenn von bekannten deutschen höheren Offizieren im Zweiten Weltkrieg die Rede ist, dann fallen Namen wie Erwin Rommel, Karl Dönitz oder Erich von Manstein. Weniger bekannt ist General Walter Warlimont, einer der wichtigsten Offiziere im Wehrmachtführungsstab. Er galt als hochbefähigt und wirkte auf Besucher des „Führerhauptquartiers“ wie ein Fremdkörper unter Hitlers militärischen Beratern. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er deshalb der ideale Gesprächspartner für die Medien. Nicht ohne Erfolg bemühte er sich, das Klischee von der „sauberen Wehrmacht“ zu verbreiten, die mit den Verbrechen des NS-Regimes nichts zu tun gehabt hätte.

Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1939 und zeigt Warlimont als Oberst (Bundesarchiv, Bild 146-1987-104-27 / CC-BY-SA 3.0) via Wikimedia Commons

Im Auftrag der amerikanischen Besatzungsmacht arbeiteten deutsche Offiziere an operativen Studien über die Rote Armee. Im Kalten Krieg wollte man in Washington wissen, wo die Schwächen und Stärken des sowjetischen Verbündeten lagen, der vielleicht bald zum Gegner werden konnte.

Sowohl die Memoiren deutscher Generäle wie auch die militärischen Spezialstudien sind unverzichtbare Quellen für Historiker, die sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieges beschäftigen. In der Regel wurden sie von Offizieren verfasst, die dem Oberkommando des Heeres angehörten oder als Frontkommandeure Armeen oder Heeresgruppen führten. In jeder Armee gibt einen Konflikt zwischen der ‚obersten Führung‘ und ‚der Front‘. Große Truppenverbände benötigen nicht nur Soldaten und Offiziere der mittleren Befehlsebene, sondern auch militärische Manager, Generalstabsoffiziere, die Schlachten planen oder lenken. Das tun sie nicht vom Feldherrenhügel aus, sondern in Hauptquartieren, in denen man keinen Schlachtenlärm hört. Statt Minenfelder oder Drahtverhauen gibt es Intrigen, Gerangel um Kompetenzen, man buhlt um die Gunst von Vorgesetzten und hat ein ‚Herz für die Truppe‘ – auch wenn man Befehle entwirft, die für die Soldaten an der Front tödliche Folgen haben können.

In der Erinnerungskultur der fünfziger Jahre galt das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) als Quelle allen Übels. Dort hätten Soldaten Dienst getan, die die Armee dem Nationalsozialismus ausgeliefert hätten. Die führenden Offiziere des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und Generaloberst Alfred Jodl waren in Nürnberg als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Ehemalige Offiziere aus dem Oberkommando des Heeres wie die Generäle Heusinger und Speidel konnten 1955 in die Bundeswehr eintreten und ihre soldatische Laufbahn fortsetzen. Ihnen haftete nicht der „Makel OKW“ an, auch wenn zumindest Heusinger als Chef der Operationsabteilung des Generalstabes des Heeres in Kriegsverbrechen an der Ostfront verstrickt war.

Walter Warlimont – der Unbeteiligte

Zu Beginn der sechziger Jahre meldete sich dann ein ehemaliger hoher Offizier aus dem OKW zu Wort: Walter Warlimont, bis 1944 stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes. Unter dem Titel „Im Hauptquartier der Wehrmacht 1939 bis 1945“ veröffentlichte er 1964 seine Erinnerungen.

Walter Warlimont kam 1893 zur Welt. Nach dem Abitur 1913 schlug er die Laufbahn eines Berufsoffiziers ein. 1914 erhielt er sein Leutnantspatent. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er an der Westfront und in Italien.

Nach der Niederlage Deutschlands schloss er sich einem Freikorps an, ehe er 1920 in die Reichswehr übernommen wurde. Dort machte er Karriere: 1926 wurde er als Hauptmann in den Generalstab versetzt. Ungewöhnlich für einen Offizier waren auch seine Auslandsverwendungen. 1929/30 konnte er ein Jahr die amerikanische Armee kennenlernen und sich über das wirtschaftliche Potenzial der USA informieren. 1936 wurde er vorübergehend in das Hauptquartier von General Franco abgeordnet, der in Spanien einen Bürgerkrieg gegen die demokratisch legitimierte Regierung führte. Anschließend übernahm er das Kommando über ein Artillerieregiment in Düsseldorf, ehe er 1938 in das OKW versetzt wurde, wo er bis September 1944 Dienst tat. Offiziell wurde er aufgrund seiner Verwundungen, die er am 20. Juli 1944 erlitten hatte, von Hitler in die Führerreserve versetzt.

Nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 kam Warlimont als Kriegsgefangener in das Internierungslager Bad Mondorf. 1948 gehörte er in Nürnberg zu den Angeklagten im „OKW-Prozess“ und erhielt eine lebenslange Haftstrafe. Zusammen mit Walther von Brauchitsch, Franz Halder und Siegfried Westphal verfasste er eine Denkschrift, die nachweisen sollte, dass das Oberkommando der Wehrmacht und der Generalstab des Heeres mit den Verbrechen des NS-Regimes nichts zu tun hatte.

1954 wurde er begnadigt und konnte das Zuchthaus verlassen. Als Publizist – beispielsweise für den „SPIEGEL“ – oder als Zeitzeuge in einer filmischen Dokumentation über das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, ausgestrahlt im Ersten Deutschen Fernsehen, blieb er in der Öffentlichkeit präsent. Walter Warlimont starb 1976.

Warlimont war ein gebildeter und kultivierter Mann. Im Gegensatz zu vielen Offizieren seiner Generation hatte er im Ausland gelebt. Dass er den Sprung in den Generalstab schaffte, spricht für seine militärischen Fähigkeiten. Kein Zweifel: Warlimont gehörte zur Elite einer Armee, deren taktisches und operatives Können nach dem Krieg vor allem von englischen und amerikanischen Historikern gewürdigt wurde.

1939 bis 1944: Spannungen in der Wehrmachtführung

Doch diese Qualitäten konnte Warlimont kaum umsetzen. Als stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes war er nicht mehr als ein gehobener Sachbearbeiter, der für seinen Vorgesetzten, General Alfred Jodl, die Lageberichte von den Fronten auswertete und Befehlsentwürfe fertigte. Während Jodl nach Kriegsbeginn zum wichtigsten militärischen Berater des Diktators aufstieg und Hitler täglich Lagevortrag hielt, blieb Warlimont im Hintergrund und durfte nur gelegentlich an den Besprechungen teilnehmen. Das Verhältnis zwischen dem Chef des Wehrmachtführungsstabes und seinem Stellvertreter blieb distanziert. Immerhin würdigte Jodl die Fähigkeiten Warlimonts und sorgte dafür, dass Walter Warlimont es schließlich bis zum General der Artillerie brachte.

Doch mehr als die Rolle eines Zuarbeiters wollte der Chef des Wehrmachtführungsstabes ihm nicht zubilligen. Als Hitler im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärte, telefonierte Warlimont mit seinem Vorgesetzten und schlug vor, der Wehrmachtführungsstab solle eine gründliche Analyse der veränderten strategischen Lage vornehmen. Jodl wiegelte ab und sah keinen besonderen Handlungsbedarf. Die Episode zeigt nicht nur, wie gering der Einfluss Warlimonts war. Als Oberster Befehlshaber der Wehrmacht traf Hitler Entscheidungen auf dem Gebiet der großen Strategie alleine.

Der Wehrmachtführungsstab entwickelte sich in der zweiten Kriegshälfte immer mehr zu einem zweiten Generalstab des Heeres. Er war zuständig für alle Kriegsschauplätze außer der Ostfront. Allerdings konnten Jodl oder Warlimont lediglich den dort unterstellten Heereseinheiten Befehle geben, nicht aber der Luftwaffe oder der Marine. Da der Wehrmachtführungsstab nur wenig Personal besaß, wurden auf diesen Kriegsschauplätzen „OKW-Befehlshaber“ eingesetzt, die im Gegensatz zur Ostfront wenigstens einen geringen Entscheidungsspielraum gegenüber dem „Führerhauptquartier“ besaßen. Eine echte Wehrmachtführung, also ein Zusammenwirken von Heer, Marine und Luftwaffe, kam jedoch nicht zustande.

Die letzte strategische Lagebeurteilung (zumindest dem Anspruch nach) legte der Wehrmachtführungsstab im Dezember 1942 vor. Sie folgte dem Wunschdenken des Diktators. Während die 6. Armee in Stalingrad eingekesselt war und die deutsch-italienischen Truppen sich in Richtung Tunesien zurückziehen mussten, formulierte der Wehrmachtführungsstab ein Papier, das für das Jahr 1943 eine Offensive in Richtung Persien vorsah – ein Vorschlag, der mit nüchternem generalstabsmäßigen Denken nichts mehr zu tun hatte.

Warlimont beschreibt in seinen Erinnerungen eindrucksvoll, dass der Wehrmachtführungsstab nur noch Lücken stopfen konnte. Er verbrachte den Krieg am Schreibtisch. Manchmal hatte er ausländische Gäste über die militärische Lage zu informieren. Seine Tagesarbeit bestand darin, Divisionen zu verschieben und zu prüfen, ob man in Italien oder auf dem Balkan Kräfte für die Ostfront frei machen konnte. Nur selten durfte er sich vor Ort ein Bild von der Lage machen. Zu Beginn des Jahres 1943 flog er als Vertreter Jodls nach Tunesien, um sich über den nordafrikanischen Kriegsschauplatz zu informieren. Nach seiner Rückkehr wollte er Hitler beim Lagevortrag die Räumung des Brückenkopfes vorschlagen. Generalfeldmarschall Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, untersagte ihm dies. In seinen Erinnerungen räumt er ein, dass man im Wehrmachtführungsstab nach der Niederlage in Stalingrad und den Rückschlägen in Nordafrika nicht mehr mit einem Sieg rechnete. Warlimont kritisiert Hitlers Weigerung, durch strategische Rückzüge die militärische Situation des Reiches zu verbessern und damit die Voraussetzungen für einen Kompromissfrieden zu schaffen.

Anfang August 1944 entsandte ihn Hitler nach Nordfrankreich an die Invasionsfront. Warlimont sollte die Heeresgruppe B unter Generalfeldmarschall von Kluge zu einem Angriff gegen die Amerikaner drängen. Vor Ort erkannte Warlimont, wie aussichtslos die militärische Lage war. Hitler und Jodl misstrauten mittlerweile dem stellvertretenden Chef des Wehrmachtführungsstabes. Im September 1944 wurde Walter Warlimont offiziell aus gesundheitlichen Gründen in die „Führerreserve“ versetzt.

Walter Warlimont und seine Inszenierung als Zeitzeuge

Walter Warlimont war kein Nationalsozialist. Er gehörte auch nicht zum Widerstand. Als stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes war er an der Ausarbeitung völkerrechtswidriger Befehle beteiligt. In seinen Erinnerungen beschreibt er diese Tätigkeit als bürokratischen Vorgang. Sollte er moralische Skrupel gehabt haben, so behielt er sie für sich. Warlimont war der „Unbeteiligte“.

 

Warlimont 1948
Walter Warlimont am 28. Juni 1948 vor Gericht. Quelle: Wikimedia Commons

 

Der General teilte den Antikommunismus der meisten deutschen Offiziere. Möglicherweise beeinflussten ihn auch seine Erfahrungen aus seiner Zeit als Angehöriger eines rechtsextremen Freikorps 1918/19. Kommunisten waren keine „anständigen“ Gegner – gegen sie schien jedes Mittel erlaubt zu sein. Immerhin konnte Warlimont beim „Kommissarbefehl“, der die Erschießung russischer Politikoffiziere vorsah, einige Abmilderungen durchsetzen. Er kritisierte das ungehobelte Auftreten mancher Parteifunktionäre. Warlimont liebte seinen Beruf und wollte Karriere machen. Die Stellung im Oberkommando der Wehrmacht bot ihm Gelegenheit dazu.

Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat, schrieb einmal Goethe. Warlimont war gebildet; sein Horizont reichte über den Kasernenhof hinaus. Wer, wenn nicht er wäre prädestiniert gewesen, ein differenzierteres Bild von der Wehrmacht vorzulegen, als es die anderen militärischen Memoirenschreiber taten. Aber dies hätte bedeutet, sich den eigenen Fehlern zu stellen – zum Beispiel seiner Rolle bei der Formulierung völkerrechtswidriger Befehle.

Walter Warlimont war ein gläubiger Katholik. Sollte es einen Gott geben, wird Warlimont sich spätestens vor ihm bekennen müssen. Aber das zu beurteilen gehört nicht zu den Aufgaben einer Historikerin.

 

Zu General Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes siehe:

Hitlers engster militärischer Berater — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

Zum Wehrmachtführungsstab:

Deutschland in der Defensive — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

 

Weiterführende Informationen:

NICHT VERRAT, HITLERS HYBRIS! – DER SPIEGEL 27/1964

Walter Warlimont bespricht im „SPIEGEL“ ein Buch von Paul Carell.

 

Literatur:

Walther Hubatsch (Hrsg.): Hitlers Weisungen für die Kriegführung 1939 – 1945, 2. Aufl., Bonn 1983

Heinz Magenheimer, Die deutsche militärische Kriegführung im II. Weltkrieg. Feldzüge – Schlachten – Entscheidungen, Bielefeld, Garmisch – Partenkirchen 2019

Geoffrey P. Megargee, Hitler und die Generale. Das Ringen um die Führung der Wehrmacht 1939 – 1945, Paderborn, München, Wien, Zürich 2006

Rolf – Dieter Müller, Der letzte deutsche Krieg 1939 – 1945, Stuttgart 2005

Walter Warlimont, Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939 bis 1945. Grundlagen – Formen – Gestalten, Band 1 und 2, Augsburg 1990 (Nachdruck der Originalausgabe aus dem Jahr 1962)

 

Der Beitrag wurde am 14. April 2023 überarbeitet.