Dr. Katharina Kellmann

Ein liberaler Preuße

Ein liberaler Preuße – das war Friedrich III., auch „99-Tage-Kaiser“ genannt. Hätte die Geschichte des Kaiserreiches einen anderen Verlauf genommen, wenn der Hohenzoller in jüngeren Jahren als gesunder Mann auf den Thron gekommen wäre? Zweimal galt er als Hoffnungsträger der Liberalen: Im preußischen Verfassungskonflikt in den Sechzigerjahren und zu Beginn der Achtzigerjahre, als die deutschen Liberalen noch einmal versuchten, eine vereinte liberale Partei zu gründen.

 

Friedrich als Kronprinz
Ein liberaler Preuße. Friedrich als Kronprinz 1857. Foto eines Gemäldes von Franz Xaver Winterhalter. Quelle. Wikimedia Commons

Liberale Mutter – konservativer Vater

Friedrich wurde am 18. Oktober 1831 in Berlin geboren. Er entstammte der Ehe zwischen Prinz Wilhelm von Preußen und Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach. Wilhelm kam als zweitältester Sohn ursprünglich nicht für die Thronfolge in Betracht. Er absolvierte eine militärische Laufbahn und war ein passionierter Soldat.

Im März 1848 brach auch in Berlin die Revolution aus. Am 18. März 1848 kam es in der Stadt zu Barrikadenkämpfen. Wilhelm plädierte dafür, Berlin zu räumen und von außen „sturmreif“ zu schießen. In der Bevölkerung wuchs die Wut auf den Prinzen. Der preußische König, Friedrich Wilhelm IV. (1840 bis 1861), befahl seinem Bruder deshalb am 20. März, das Land zu verlassen und nach London zu reisen. Prinzessin Augusta blieb mit ihren beiden Söhnen in Potsdam. Ihr Ruf als liberal eingestellte Prinzessin sorgte dafür, dass für sie keine Gefahr bestand. Am 30. Mai 1848 bekannte sich Wilhelm öffentlich zu den Grundsätzen der konstitutionellen Monarchie und konnte nach Berlin zurückkehren. Er blieb bis an sein Lebensende ein Konservativer, hatte aber begriffen, dass die Entwicklung zum Verfassungsstaat nicht aufzuhalten war.

Friedrich trat in die Fußstapfen seines Vaters und wurde Offizier. Bei einem Regimentsessen äußerte er im Frühjahr 1849 im Kreis seiner Kameraden, dass eine Volksvertretung unverzichtbar sei. Die meisten Offiziere in der preußischen Armee teilten diese Auffassung nicht. Auch wenn man diese erste überlieferte politische Stellungnahme des jungen Prinzen nicht überbewerten sollte, so deutete sie doch an, dass Friedrich seiner Mutter näher stand. Da die Ehe des Königs kinderlos blieb und Prinz Wilhelm schon das fünfzigste Lebensjahr überschritten hatte, würde Friedrich eines Tages den preußischen Thron besteigen. Ein freisinniger Monarch, der die Verfassung von 1848 auch ernst nimmt, darauf richteten sich die Hoffnungen der Liberalen nach der gescheiterten Revolution.

Friedrich führte fortan nicht mehr das Leben eines königlichen Prinzen einer Nebenlinie. Er wurde auf seine zukünftigen Aufgaben als König vorbereitet, auch wenn er formell noch kein Kronprinz war. Seine Mutter setzte durch, dass er von 1849 bis 1852 in Bonn Rechtswissenschaften und Geschichte hören konnte.

Danach widmete er sich wieder seiner militärischen Karriere und nahm Repräsentationsaufgaben wahr. Bei einem Besuch der Weltausstellung 1851 in London lernte er Victoria, die älteste Tochter der britischen Königin, kennen. Im Januar 1858 heirateten sie. Im selben Jahr wurde Prinz Wilhelm offiziell zum Regenten erklärt, da Friedrich Wilhelm IV. aufgrund mehrerer Schlaganfälle seit 1857 nicht mehr seinen Pflichten nachkommen konnte.

Preußen: Ein „unvollendeter“ Verfassungsstaat

In Preußen hatte die Regierung am 5. Dezember 1848 eine Verfassung einseitig erlassen. Was vor der Revolution ein politischer Fortschritt gewesen wäre, geriet nun zum autoritären und konterrevolutionären Akt, da die demokratisch legitimierte preußische Nationalversammlung übergangen wurde. Die Verfassung wurde am 31. Januar 1850 in einem konservativ-reaktionären Sinne geändert.

Das Königreich Preußen entwickelte sich zu einer konstitutionellen Monarchie, in der die vollziehende Gewalt beim Thron lag. Regierungsakte des Königs bedurften zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers. Die Minister waren den gesetzgebenden Organen, der Ersten und der Zweiten Kammer, nicht verantwortlich.

Ein Gesetz kam erst zustande, wenn der Monarch und die beiden Kammern zugestimmt hatten. Artikel 62 legte fest, dass die Gesetzgebung „gemeinschaftlich“ von den drei Verfassungsorganen ausgeübt wird. Die Erste Kammer, die ursprünglich aus geborenen und gewählten Mitgliedern bestand, wurde 1855 in ein Herrenhaus umgewandelt, dessen Mitglieder nur noch vom König ernannt wurden. Die Zweite Kammer trug seit 1855 offiziell den Namen Haus der Abgeordneten; die Bezeichnung Landtag bürgerte sich später ein. Das ungleiche Wahlrecht zum Landtag gemäß dem Dreiklassensystem begünstigte Vermögen und Besitz und benachteiligte das Kleinbürgertum, die Landarbeiterschaft und das sich entwickelnde Industrieproletariat.

Die Presse litt unter Zensur und die Wahlen wurden von der Regierung beeinflusst. In der Zweiten Kammer dominierten in den Fünfzigerjahren die Konservativen. Allerdings bildeten sie keinen homogenen Block.

Eine kleine Gruppe träumte von einer feudal-reaktionären Wiederherstellung der vorrevolutionären Verhältnisse. Ministerpräsident Otto Theodor von Manteuffel steuerte einen gouvermental-bürokratischen Kurs, der im Inneren auf eine Festigung der staatlichen Macht setzte und in der Außenpolitik eine antinationalistische Linie vertrat. Er gab alle Pläne für eine Einigung Deutschland unter preußischer Führung („kleindeutsche Lösung“) auf und akzeptierte die Vormachtstellung des Kaiserreiches Österreich im Deutschen Bund.

Die Politik der preußischen Regierung in dieser Zeit glich einem Versuch, einen Strom zu begradigen und Schutzdämme zu errichten. Die Liberalen und die Demokraten, die während der Revolution von 1848/49 in vielen deutschen Staaten die Politik bestimmt hatten, konnten sich nur mit Einschränkungen oder gar nicht betätigen. Führende Mitglieder der Linken waren in die Emigration gegangen oder zogen sich in das Privatleben zurück. Mochte das Kabinett Manteuffel auch mit den Mitteln des Obrigkeitsstaates das noch 1848 in verschiedene politische Lager gespaltene Land scheinbar ‚befrieden‘, so veränderte sich Preußen in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts trotzdem. Die Industrialisierung machte Fortschritte, die vom Staat mit einer relativ liberalen Gewerbepolitik unterstützt wurde.

Die „Neue Ära“

Die Opposition bestand seit 1851 vor allem in der sogenannten „Wochenblatt-Partei“. Ihre Anhänger hatten erkannt, dass nur ein reformorientiertes Preußen auf die Unterstützung der Liberalen in Deutschland hoffen konnte. Ein moderater Konservatismus bot die Chance, Teile des liberalen Bürgertums zu gewinnen. Eine gesellschaftliche Allianz zwischen Industriebürgertum und landbesitzendem Adel hätte alte Fronten aufgelockert. Für kurze Zeit sah es so aus, als ob hier eine Partei wie die britischen ‚Tories‘ entstehen würde, eine politische Kraft, die den Konservatismus mit dem Verfassungsstaat aussöhnte. Die Niederlage des Zarenreiches im Krimkrieg gegen England, Frankreich und dem Osmanischen Reich 1856 erleichterte eine Neuorientierung der preußischen Außenpolitik. In der „Wochenblatt-Partei“ setzte man auf London als Bündnispartner.

Prinz Wilhelm von Preußen wurde 1849 zum Generalgouverneur der Rheinprovinz und Westfalen ernannt und nahm seinen Dienstsitz in Koblenz. Das kurfürstliche Schloss wurde zum „Mittelpunkt“ der Liberal-Konservativen, so der Historiker Frank Lorenz Müller. Prinzessin Augusta förderte diese Entwicklung. Prinz Wilhelm hatte sich zu einem gemäßigten Konservativen gewandelt. Mit seiner Ernennung zum Regenten am 7. Oktober 1858 begann ein kurzer Abschnitt in der preußischen Geschichte, der als „Neue Ära“ bezeichnet wird. Der „Kartätschenprinz“ wurde plötzlich zum liberalen Hoffnungsträger. 1861 bestieg er nach dem Tod seines Bruders als Wilhelm I. den Thron.

Die Geschichte der „Neuen Ära“, die von 1858 bis 1862 dauerte, ist eine Geschichte der Missverständnisse und der unrealistischen Hoffnungen. Die Übernahme der Regentschaft durch einen gemäßigten Konservativen leitete jedoch das Ende des reaktionär-konservativen Regimes ein. Die Opposition schöpfte Hoffnungen. Nicht nur Liberale, auch demokratische Politiker wie Johann Jacoby engagierten sich wieder im öffentlichen Leben. Neuer Ministerpräsident wurde Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen. Er stand der „Wochenblatt-Partei“ nahe. Wilhelm strebte eine aktivere Deutschlandpolitik an. Das europäische Mächtesystem hatte sich durch die Niederlage Russlands zugunsten Preußens verändert. 1859 kam es zur Einigung Italiens. Die Frage einer Reform des Deutschen Bundes in Richtung eines deutschen Nationalstaates stand damit wieder auf der Tagesordnung. Doch war das Königreich Preußen in der Lage, diese Politik durchzusetzen?

Im November 1858 stellte Wilhelm seinen Sohn dem Kabinett vor. Friedrich sollte in Zukunft an den Sitzungen teilnehmen. Er unterstützte nicht nur den etwas liberaleren Kurs seines Vaters, sondern auch die vom Prinzregenten geplante Heeresreform. Die Mobilmachung von 1859 hatte Schwächen offenbart, die abgestellt werden mussten, wenn Preußen eine aktivere Deutschlandpolitik treiben wollte.

1860 präsentierte Kriegsminister Albrecht von Roon einen Plan, der die dreijährige Militärdienstzeit – die seit 1856 galt – endgültig festschreiben wollte. Gleichzeitig sollte die Friedensstärke des Heeres um 33 % erhöht werden. Mit der Vergrößerung der aktiven Truppe war eine Schwächung der Bürgerwehr vorgesehen. Diese milizähnlichen Verbände stammten noch aus der Zeit der Befreiungskriege. Die Heeresreform sollte sich zu einem Verfassungskonflikt entwickeln, der die preußisch-deutsche Geschichte nachhaltig beeinflusste.

1861 verschärfte sich der Konflikt. Linksliberale und gemäßigte Demokraten gründeten die Deutsche Fortschrittspartei (DFP). Die DFP war eine monarchistische Partei. In ihrem Gründungsaufruf von 1861 hieß es, sie sähe in einer Verfassung das Band, das Krone und Volk zusammenhielte. Die Linksliberalen strebten eine deutsche Einigung unter Führung Preußens und ein gemeinsames deutsches Parlament an. Sie forderten den rechtsstaatlichen Ausbau des Landes, die Stärkung der Unabhängigkeit der Richter, die Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament, die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften und eine Wirtschaftspolitik, die auf einen Abbau staatlicher Reglementierungen setzte.

Die Fortschrittspartei betonte die Notwendigkeit einer Heeresvermehrung, glaubte jedoch, dass eine zweijährige Dienstzeit ausreichen würde. Außerdem sollte die Landwehr erhalten bleiben. Am Schluss forderte die DFP eine „durchgreifende“ Reform des Herrenhauses als Voraussetzung für alle weiteren Veränderungen. Diese konservativ-ständische Bastion sollte zu einer Ersten Kammer werden, wie es sie auch in anderen konstitutionellen Verfassungen Europas gab.

Das Programm der Fortschrittspartei kann als gemäßigt liberal bezeichnet werden. Sie unterstützte das Ziel der Heeresvermehrung, lehnte jedoch die völlige Abschaffung der Landwehr und die dreijährige Dienstzeit ab. Die übrigen Forderungen hätten Preußen nicht zu einer parlamentarischen Monarchie gemacht, sondern die konstitutionellen Elemente der Verfassung betont. Für Wilhelm I. aber war eine Mitsprache der Volksvertreter in Militärangelegenheiten undenkbar. Dies führte zu einem Konfrontationskurs, der bis 1866 andauern sollte und die politische Kultur in Preußen nachhaltig prägen sollte.

 

König Wilhelm I. und Kronprinz Friedrich
König Wilhelm I. und der Kronprinz auf dem Schlachtfeld von Königgrätz. Foto eines Gemäldes von Emil Hünten aus dem Jahr 1885. Quelle: Wikimedia Commons
Die Rolle des Kronprinzen im Verfassungskonflikt

Wilhelm löste am 11. März 1862 den Landtag auf und entließ drei Tage später die liberalen Minister seines Kabinetts. Doch die Neuwahlen führten zu einem Sieg der linksliberalen Opposition. Am 23. September 1862 lehnte die Kammermehrheit die Militärausgaben im Haushalt ab. König Wilhelm I. spielte mit dem Gedanken, auf den Thron zu verzichten. Die Militärs dachten an einen Staatsstreich. Am 30. September 1862 ernannte der König den preußischen Gesandten in Paris, Otto von Bismarck, zum Ministerpräsidenten. Der neue leitende Minister versprach, die Militärreform ohne die Zustimmung des Landtags durchzusetzen.

Friedrich war entsetzt über die Ernennung Bismarcks. Er hoffte auf eine Einigung mit der Volksvertretung. Der Kronprinz unterhielt Kontakte zu gemäßigten Liberalen. Als sein Vater 1862 liberale Minister aus dem Kabinett entließ, besuchte er danach die Politiker, die ihr Amt zur Verfügung stellen mussten. Friedrich wurde in dieser Haltung von seiner Frau unterstützt, die mit der Politik des Königs ebenfalls nicht einverstanden war. König Wilhelm, der schon die liberalen Ansichten seiner Frau und ihre relativ eigenständige Rolle missbilligte, war über den Einfluss seiner Schwiegertochter empört. Schließlich wies er seinen Sohn an, politische Themen nicht mehr mit seiner Frau zu besprechen.

1863 erreichte der Vater-Sohn-Konflikt seinen Höhepunkt. Wilhelm I. hatte per Verordnung die Pressefreiheit eingeschränkt. Friedrich distanzierte sich im Juni 1863 in einer Rede in Danzig von diesen Maßnahmen; er hätte davon nichts gewusst. Der König war wütend. Einige Minister schlugen vor, den Kronprinzen vor ein Kriegsgericht stellen. Bismarck jedoch wollte aus pragmatischen Gründen Friedrich nicht zum Märtyrer machen. Außerdem hätte er, so Frank-Lorenz Müller, erkannt, dass der Thronfolger gar nicht das Haupt einer entschieden liberalen Opposition sein wollte.

Nicht selten ist Friedrich der Vorwurf gemacht worden, er hätte es im Verfassungskonflikt an klaren politischen Standpunkten fehlen lassen. Für einen preußischen Kronprinzen war er jedoch schon recht weit gegangen. Friedrich hatte nicht die Absicht, Anführer der Opposition sein. Der Kronprinz bewegte sich auf der Linie des gemäßigten Flügels der Fortschrittspartei, die mit der Regierung verhandeln wollte. Sein Verhalten entsprach dem eines konstitutionellen Fürsten. Er war zu einem Kompromiss bereit und hätte die zweijährige Dienstzeit akzeptiert. Ein Parteigänger der Fortschrittspartei war er nicht. Sein gemäßigter Liberalismus setzte auf Verständigung, während die Fortschrittspartei das Budgetrecht des Parlaments durchsetzen wollte. Der König und Bismarck hatten den Konflikt um die Heeresvermehrung ebenfalls zu einer Machtfrage erhoben, die schließlich 1866 mit einem Kompromiss endete. Bismarck legte eine Indemnitätsvorlage vor: Die Abgeordneten billigten nachträglich die Ausgaben für die Heeresreform seit 1862 und die Regierung erkannte im Prinzip das Budgetrecht an.

Friedrich trat in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre kaum noch mit politischen Äußerungen hervor. Seine militärischen Erfolge verbesserten zeitweise das Verhältnis zu seinem Vater. In den Kriegen gegen Österreich und Frankreich 1866 und 1870/71 führte er erfolgreich eine Armee. In der Schlacht von Königgrätz 1866 spielte er eine wichtige Rolle. Doch das Misstrauen des Monarchen gegenüber seinem Sohn blieb. Politische Ämter erhielt der Kronprinz nicht. Am Ende der siebziger Jahre sollte er doch noch einmal zum politischen Hoffnungsträger werden.

Ein liberaler Kronprinz im Wartestand

Bismarck arbeitete zwischen 1871 und 1877 im Reichstag mit einer starken nationalliberalen Fraktion zusammen. Bei den Wahlen 1871, 1874 und 1877 konnten sich die Nationalliberalen als stärkste Kraft behaupten und erreichten zwischen 30 und 27 Prozent der Stimmen. Die Linksliberalen vereinigten zwischen 9,3 und 8,5 Prozent der Stimmen auf sich.

1878 stellten erstmals die Konservativen die stärkste Fraktion. Das katholische Zentrum lag mit den Nationalliberalen gleichauf. Der Reichskanzler nutzte diese Entwicklung. Zwar befand sich der „Kulturkampf“, die Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche über die Rolle des Klerus noch auf dem Höhepunkt, aber Bismarck sah eine Möglichkeit, um die Zusammenarbeit mit den Liberalen im Reichstag zu beenden. 1878 wurden zwei Attentate auf den Kaiser verübt. Der Reichskanzler brachte geschickt die Sozialdemokratie mit ihnen in Verbindung. Er stilisierte sie zu neuen ‚Reichsfeinden‘ hoch und wollte mit Ausnahmegesetzen gegen die junge Partei gleichzeitig die Nationalliberalen spalten. Würden diese ihren freiheitlichen Prinzipien folgen, so müssten sie gegen die Vorlage mit ihren zum Teil illiberalen Bestimmungen votieren. Bismarck wollte die SPD nicht verbieten, aber die sozialistische Propaganda mit den Mitteln des Polizeistaates bekämpfen. Die Liberalen traf er damit an einem wunden Punkt: Sie sahen mit Sorge, wie sich das Industrieproletariat immer mehr den Sozialdemokraten zuwandte. Die Zeiten, in denen Arbeitervereine und Liberale noch Bundesgenossen waren, schienen vorbei.

Hinzu kamen grundlegende Meinungsverschiedenheiten in der Wirtschaftspolitik. Bismarck wollte seit 1876/77 eine Steuerreform durchsetzen, deren Kernstück Einfuhrzölle und indirekte Steuern bildeten. Nach der Verfassung von 1871 standen indirekte Steuern dem Reich zu, das seinen Haushalt ansonsten durch Beiträge finanzierte, die es von den Ländern erhielt. Das Sozialistengesetz und die Wende in der Wirtschafts- und Finanzpolitik waren nur mit den Konservativen und dem rechten Flügel der Nationalliberalen möglich. Ein Bündnis zwischen Rechtsliberalen und Konservativen erschien Bismarck als die ideale Unterstützung seiner Politik.

Der Kronprinz stand dem linken Flügel der Nationalliberalen nahe. Er befürwortete die Weiterentwicklung der Reichsverfassung – beispielsweise durch die Einführung der Ministeranklage – lehnte aber eine parlamentarische Monarchie ab. Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung betrachtete er als Gefahr für Staat und Gesellschaft. Das Sozialistengesetz hielt er grundsätzlich für sinnvoll. Wie die meisten Liberalen kritisierte er die staatliche Sozialpolitik Bismarcks und setzte auf die Förderung genossenschaftlicher Selbsthilfe.

Friedrich befürwortete entschieden den Freihandel. Typisch für seinen gemäßigten Liberalismus war auch eine kritische Haltung gegenüber dem allgemeinen Männerwahlrecht, das Bismarck als Waffe gegen die Liberalen eingeführt hatte. Er war nicht bereit, das Militär unter parlamentarische Kontrolle stellen zu lassen. In diesem Punkt stimmte er mit seinem Vater und dem Reichskanzler überein. Der Kronprinz wich in einigen Punkten vom Konservatismus des Kaisers ab, aber hätte er seine Politik durchsetzen können? Die Verfassung gewährte ihm einen nicht unerheblichen Spielraum. Wichtig jedoch war vor allem eine starke liberale Partei, auf die er sich hätte stützen können.

Der Kronprinz im Gespräch mit Honoratioren auf einem Hofball. Rechts im Bild Anton Werner. Fotografie eines Gemäldes von Anton Werner aus dem Jahr 1895 (Wikimedia Commons)

Am Ende der siebziger Jahre traten die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Nationalliberalen deutlich hervor. Bismarcks Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik wurde innerhalb der Nationalliberalen Partei kontrovers diskutiert. Dass der Kanzler für diese Politik eine Mehrheit aus Konservativen und dem katholischen Zentrum gefunden hatte, förderte auf dem rechten Flügel der Liberalen die Annäherung an die Konservativen. Der Historiker Heinrich von Treitschke, lange Jahre Mitglied der nationalliberalen Fraktion im Reichstag, veröffentlichte 1879 in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz, der deutlich macht, wie Mitglieder des rechten Flügels dachten. Die Nation ist des Gezänks ihrer Parlamente bis zum Ekel überdrüssig; selbst die Gegner der neuen Wirtschaftspolitik scheinen in ihrer großen Mehrheit entschlossen, den Erfolg der Reformen gelassen abzuwarten und nach den Tatsachen zu urteilen.“ Treitschke gehörte zu jenen Liberalen, die den Platz ihrer Partei an der Seite der Konservativen sahen. Die Vorstellung einer starken liberalen Partei als Kraft der Mitte, die einen Kaiser Friedrich parlamentarisch unterstützen könnte, war in seinen Augen abwegig: „Die Verehrer der bekannten ‚großen liberalen Partei‘ sind bis auf wenige verschwunden, obgleich sie die Wahlbewegung fast ausschließlich leiteten …“

Doch der Historiker unterschätzte den linken Flügel, der nicht bereit war, sich einfach in die Defensive drängen zu lassen. Am 30. August 1880 traten prominente Mitglieder aus der nationalliberalen Reichstagsfraktion aus. Diese ‚Sezessionisten‘ veröffentlichten eine Erklärung, in der sie die Entwicklung der Nationalliberalen kritisierten. Sie lehnten die Schutzzollpolitik ab und hielten am Ziel eines „wahrhaft konstitutionellen Systems“ fest. Das Manifest beschwor noch einmal die Ideale der Nationalliberalen Partei aus ihren Gründungszeiten. Unter einem „wahrhaft konstitutionellen System“ verstanden sie keine parlamentarische Monarchie, sondern eine konstitutionelle Monarchie, in der das Parlament ernst genommen wird und sich nicht auf eine Interessenvertretung reduzieren lässt.

Der Kronprinz unterhielt Kontakte zu den ‚Sezessionisten‘. Schon 1879 hatten ihn führende Mitglieder über ihre Pläne informiert. Auch in der Öffentlichkeit wurde diese Gruppe, die sich als Liberale Vereinigung konstituierte, ‚Kronprinzenpartei‘ genannt. Friedrich beurteilte die Aussichten einer neuen liberalen Partei skeptisch. Erst als die ‚Sezessionisten‘ und die Fortschrittspartei bei den Reichstagswahlen 1881 Stimmengewinne erzielt hatten, änderte er seine Meinung. Die Liberalen, die ihn umwarben, nahmen Rücksicht auf seine Ablehnung eines Militäretats, der jährlich neu zu verabschieden ist, und betonten dagegen ihre wirtschaftspolitischen Ziele. Sie lehnten – wie der Kronprinz – entschieden die staatliche Sozialpolitik des Reichskanzlers ab und forderten eine gesetzliche Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche.

Die Versuche, alle Strömungen des Liberalismus in einer Partei zu vereinen, scheiterten. Anfang März 1884 schlossen sich die ‚Sezessionisten‘ mit der Fortschrittspartei zur Deutsch-Freisinnigen Partei zusammen. Die Freisinnigen formulierten ein linksliberales Programm, das in der Tradition des Manifests der Sezessionisten stand. Gefordert wurde die „Entwicklung eines wahrhaft konstitutionellen Verfassungslebens in gesichertem Zusammenwirken zwischen Regierung und Volksvertretung und gesetzliche Organisation eines verantwortlichen Reichsministeriums.“ Die Partei lehnte den „Staatssozialismus“ (so nannten sie die staatliche Sozialpolitik) ausdrücklich ab und kritisierte auch Schutzzölle. Die „Wehrkraft des Volkes“ sollte erhalten werden; allerdings wollten die Freisinnigen die Dienstzeit verkürzen und die „Friedenspräsenzstärke“ in jeder Legislaturperiode überprüfen.

Bei den Nationalliberalen setzte sich endgültig der rechte Flügel durch. In ihrem ‚Heidelberger Manifest‘, das wenige Tage später, am 23. März 1884 veröffentlicht wurde, stellten die Unterzeichner klar, dass sie die bisherige Schutzzollpolitik respektierten und sozialpolitische Vorlagen der Reichsregierung nicht grundsätzlich ablehnen würden.

Die Deutsch-Freisinnige Partei musste bald erkennen, dass der Kronprinz ihr gegenüber keinen eindeutigen Standpunkt einnahm. Der Historiker Frank Lorenz Müller vertritt die These, dass das Verhalten Friedrichs „ein wenig an Bigamie“ erinnerte: „Einerseits traf er sich häufig mit führenden Linksliberalen, deren Ziele er gut verstand. Andererseits hielt er den Kontakt zu Bismarck aufrecht und ließ es zu, dass der Kanzler ihn für seine Zwecke einspannte. Friedrich Wilhelms Beziehung zu den Vorkämpfern der Kronprinzenpartei war überdies wahrscheinlich nicht allein ungetrübter politischer Übereinstimmung geschuldet, sondern Victorias entschieden linksliberale Überzeugungen und eine gewisse Eitelkeit dürften ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben.“

Bismarck tat alles, um den Einfluss des Kronprinzen zu begrenzen. Wer im Rufe stand, mit den politischen Ansichten Friedrichs zu sympathisieren, konnte nicht auf ein hohes Amt oder eine Karriere hoffen. Wilhelm I. legte das Misstrauen gegen seinen Sohn nie ab. So blieben dem Kronprinzen nur Gesten, wie etwa seine öffentliche Stellungnahme gegen den in Deutschland wachsenden Antisemitismus oder ein demonstratives Lob für die Berliner Stadtverwaltung, in der liberale Politiker Schlüsselstellungen innehatten.

Friedrich III. – ein liberaler Preuße

 

Kronprinz Friedrich im Jahr 1887
Ein Jahr vor seinem Tod: Kronprinz Friedrich zu Besuch in England. Quelle: Wikimedia Commons

1887 erkrankte der Thronfolger an einem Kehlkopfleiden. Im November 1887 begab er sich in das italienische San Remo. Dort erreichte ihn am 9. März 1888 die Nachricht vom Tode seines Vaters.

Er kehrte nach Berlin zurück. Obwohl er nicht mehr sprechen konnte, nahm er täglich seine Amtsgeschäfte wahr, soweit sein körperlicher Zustand dies zuließ. Wilhelm Wehrenpfennig, ein hoher Regierungsbeamter, der von 1866 bis 1879 für die Nationalliberalen dem preußischen Abgeordnetenhaus angehört hatte, veröffentlichte Ende März 1888 in den Preußischen Jahrbüchern einen Aufsatz über den Monarchen und dessen erste Regierungshandlungen, vor allem der Proklamation „An mein Volk“: „Kaiser Friedrich ist ein anderer Politiker, als der Kronprinz von 1862 war, aber ein Mann der Reaktion, vollends der gedankenlosen, wie sie in gewissen Köpfen spukt, ist er nicht geworden.“ Der ehemalige Parlamentarier brachte seine Befriedigung darüber zum Ausdruck, dass der Kaiser keine parlamentarische Regierungsform anstrebte und Fürst Bismarck im Amt beließ.

Die liberale Presse hingegen schöpfte Hoffnung und setzte auf einen Wandel. Frank Lorenz Müller beurteilt die Proklamation aus der Warte des Historikers als „wohlklingende, aber inhaltlich blasse Bekenntnisse zu Frieden, Toleranz, Frömmigkeit und einer verfassungsmäßigen Regierung“. Das einzige Ereignis, das die Liberalen während der 99 Tage als Erfolg verbuchen konnten, war die Entlassung des konservativen preußischen Innenministers Robert von Puttkamer am 8. Juni 1888. Allerdings spielte auch Bismarck in dieser Angelegenheit eine undurchsichtige Rolle; möglicherweise hatte er ein Interesse am Sturz des reaktionären Politikers, der vom preußischen Landtag (eine Bastion der Konservativen) wegen Wahlmanipulation gerügt worden war. Am 15. Juni 1888 starb der Kaiser in Berlin.

Friedrich war ein gemäßigter Liberaler, aber kein Linksliberaler, der an die Umwandlung des Kaiserreiches in eine parlamentarische Monarchie dachte. Der Hohenzoller teilte die Ängste der deutschen Liberalen vor einer Demokratisierung des politischen Lebens. Schon das allgemeine Männerwahlrecht ging manchen Liberalen zu weit, und auf kommunaler Ebene verteidigten Linksliberale undemokratische Zensuswahlrechte. Innerhalb der Arbeiterschaft fanden die liberalen Parteien kaum noch Anhänger.

Bedeutet dies, dass Friedrich – hätte er länger gelebt und wäre gesünder gewesen – nichts hätte bewirken könne? In meinen Augen wäre sein Kaisertum dennoch ein Fortschritt gewesen, vor allem in der Außenpolitik. Friedrich hätte wohl kaum jene Fehler gemacht, die seinem Sohn unterliefen. Eine Konstante in seinem politischen Denken waren gute Beziehungen zu England. Das Empire durch den Bau einer Hochseeflotte herauszufordern, wäre ihm wohl kaum in den Sinn gekommen, auch wenn gerade das liberale Bürgertum sich in den neunziger Jahren zu Fürsprechern der Marine machen sollte. Außerdem war Friedrich – bei allem Bewusstsein für seinen Rang als Kaiser – kein Mann der lauten Worte.

In der Innenpolitik hätte sein moderater Liberalismus möglicherweise jenes Lagerdenken aufgelockert, dass Bismarck zu einem Grundmuster seiner Politik gemacht hatte. Vielleicht wäre die deutsche Innenpolitik in ruhigere Bahnen gekommen, weil nun ein Kaiser auf dem Thron saß, der das Parlament ernst genommen hätte.

Aber das sind Mutmaßungen. Friedrich war ein liberaler Hoffnungsträger – ob er ein liberaler Monarch geworden wäre, der das Kaiserreich geprägt hätte, muss offenbleiben.

 

 

Beiträge auf dieser Homepage, die mit dem Thema zu tun haben:

https://katharinakellmann-historikerin.de/koeniggraetz-eine-schlacht-veraenderte-deutschland

Der Ausgang der Schlacht bei Königgrätz veränderte die politische Landkarte Deutschlands und die Machtverhältnisse in Europa.

katharinakellmann-historikerin.de/die-nationalliberalen-im-kaiserreich

Ein Beitrag über die Nationalliberale Partei.

 

Weiterführende Informationen:

Keine Herrscherin in Deutschland war so verkannt und verhaßt wie Victoria, die englische Prinzessin am Hof der Hohenzollern: An der Spitze der Frauenbewegung | ZEIT ONLINE

Karoline Müller über „Kaiserin Friedrich“, die Ehefrau des Kaisers.

 

Gedruckte Quellen:

Hans Fenske (Hrsg.): Im Bismarckschen Reich 1871 – 1890, Darmstadt 1978

 

Literatur:

Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, 2. Aufl., Berlin 1985

Ernst Engelberg, Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, Berlin 1990

Christian Jansen, Gründerzeit und Nationsbildung 1849 – 1871. Seminarbuch, Paderborn 2011

Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815 – 1866, Berlin 1998

Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1958

Frank Lorenz Müller, Der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos, München 2013

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, 2. Auflage, München 1984

Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815 – 1871, Göttingen 1984

Hagen Schulze, Der Weg zum Nationalstaat. Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung, 3. Aufl., München 1992