Dr. Katharina Kellmann

Die Zabern-Affäre von 1913

Die Zabern-Affäre von 1913 warf ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Militär und Politik im Kaiserreich. Ein „schneidiger Leutnant“ beleidigte Rekruten. Eine Zeitung machte den Skandal öffentlich. Der Reichstag debattierte über den Vorfall. Die deutschen Abgeordneten mussten sich mit dem Verhältnis von Militär und Politik auseinandersetzen.

Am 28. Oktober 1913 hielt Leutnant von Forstner in Zabern eine Instruktionsstunde vor jungen Soldaten ab. Er wies sie darauf hin, sich von der Zivilbevölkerung nicht provozieren zu lassen. Sollte man sie bedrohen, so sollten sie sich wehren. „Und wenn Sie dabei so einen Wackes über den Haufen schießen, so schadet es nichts. Sie bekommen noch zehn Mark Belohnung,“ soll Forstner hinzugefügt haben. „Wackes“ war ein abfälliger Ausdruck für die Elsässer und im dienstlichen Umgang verboten. Das war der Auftakt zur Zabern-Affäre.

1871 musste Frankreich nach dem verlorenen Krieg gegen den Norddeutschen Bund und die süddeutschen Staaten das Elsass und Teile Lothringens an Deutschland abtreten. Die einheimische Bevölkerung empfand die deutschen Beamten und Soldaten als Besatzer. Elsass-Lothringen wurde zum „Reichsland“ erklärt und erhielt erst 1911 eine Verfassung. Ein Reichsstatthalter vertrat die zivile Exekutive; die Militärs unterstanden – wie im ganzen Deutschen Reich –  dem Kaiser. 1913 stand Karl von Wedel an der Spitze der Verwaltung.

Die Äußerungen von Forstner hatten zuerst keine Folgen. Doch mehrere Rekruten gaben sie an die lokale Presse weiter. Die Bürger konnten in der Zeitung nachlesen, was ein deutscher Offizier über sie dachte. Der Unmut in Zabern wuchs. Am 11. November 1913 erteilte der Regimentskommandeur Forstner sechs Tage Stubenarrest. Diese lächerlich geringe Strafe steigerte die Spannungen noch. Als Forstner seinen Stubenarrest „verbüßt“ hatte, verließ er meist am Nachmittag nach Dienstende die Kaserne. Vier Soldaten begleiteten ihn mit geschultertem Gewehr als Wache, wenn der Leutnant das Café besuchte oder Zigaretten kaufte. Die Soldaten mussten sich Spottrufe und Beleidigungen anhören. Reichsstatthalter von Wedel legte dem Regimentskommandeur nahe, den Offizier zu versetzen.

Am 28. November 1913 eskalierte die Situation. Eine erregte Menschenmenge versammelte sich vor dem Kasernentor. Der Regimentskommandeur gab dem wachhabenden Offizier den Befehl, die Menge zum Verlassen des Platzes aufzufordern. Leutnant von Schadt rief dreimal dazu auf, das Gelände zu räumen. Danach verließ er mit einem Trupp Soldaten die Kaserne, drängte die Zivilisten in eine Seitenstraße und verhaftete auch zufällig vorbei kommende Passanten, darunter den Präsidenten des Landgerichts, zwei Gerichtsräte und einen Staatsanwalt. Der Regimentskommandeur verhängte den Belagerungszustand über die Stadt. In einem Keller der Kaserne wurden die Verhafteten untergebracht – es war ihnen noch nicht einmal gestattet, zur Verrichtung ihrer Notdurft den Raum zu verlassen.

Der Reichstag muss Stellung nehmen

Mittlerweile hatte sich der Stadtrat von Zabern in einem Telegramm an den Kaiser gewandt. Der Reichsstatthalter, General von Wedel, kritisierte in einem Bericht an den Monarchen ebenfalls das unverhältnismäßige Verhalten des Militärs.

Wilhelm II. befand sich in Donaueschingen zur Jagd. Seine militärische Umgebung verharmloste die Nachrichten, die den Kaiser erreichten. Am 30. November 1913 trafen Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg und Graf Wedel in Donaueschingen ein. Immerhin konnten sie erreichen, dass die Inhaftierten freigelassen und die Zivilgewalt wieder hergestellt wurde. Das Regiment sollte vorübergehend verlegt werden. Bethmann musste nach Berlin zurückkehren, denn einige Abgeordnete des Reichstages hatten eine Sondersitzung beantragt.

Am 2. Dezember 1913 vollbrachte Forstner ein weiteres „Heldenstück“. Mit seinen Soldaten hielt er eine militärische Übung ab. Die Arbeiter einer Schuhfabrik erkannten ihn und bedachten ihn mit Spottrufen. Forstner gab Befehl, die Arbeiter festzunehmen, aber sie konnten nur einen gehbehinderten Schuster in Gewahrsam nehmen. In seiner Wut brachte Forstner dem Mann mit seinem Säbel schwere Verletzungen bei. Ob Bethmann von dem neuen Vorfall schon Kenntnis hatte, als er zu den Abgeordneten sprach, ist nicht bekannt. Persönlich verurteilte er das anmaßende Verhalten des Leutnants, wusste aber, dass der Kaiser hinter den Soldaten stand. Seine Verteidigung  des Militärs wirkte daher wenig überzeugend.

Der Sprecher des katholischen Zentrums, Constantin von Fehrenbach, erwiderte am 3. Dezember: „Meine Herren, wir haben ja einige bedauernde Äußerungen gehört über das, was sich vonseiten der Militärs in Zabern zugetragen hat. Aber haben wir irgendetwas gehört, was getan wird, wie für das gebeugte Rechte Sühne geschaffen wird! (Lebhafte Rufe: Sehr gut!)“. Fehrenbach bekannte sich zum Militär. Er war nur empört, dass ein junger Offizier mit seinem Verhalten das ohnehin schwierige Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich belastete. Am 13. Dezember 1913 rechnete der einflussreiche Publizist Maximilian Harden in der „Zukunft“ mit dem Verhalten des Offiziers ab: „Zehn Mark für die Tötung des Wüstesten, niedrigsten, wer, im Bereich der Dienstgewalt solchen Preis ausbietet, dürfte nicht einen Tag länger das Ehrenkleid des deutschen Offiziers tragen.“ Ernst Bassermann, ein führender Politiker der nationalliberalen Partei, relativierte hingegen am 11. Januar 1914 vor Parteifreunden den Vorfall (vgl. Fenske, 1982, S. 337).

Zabern und die Folgen

Doch Forstner blieb Offizier. Für seinen Säbelhieb erhielt er in erster Instanz 43 Tage Arrest; in zweiter Instanz wurde er freigesprochen. Auch Leutnant Schadt und der Regimentskommandeur, Oberst Ernst von Reuter, wurden Anfang Januar 1914 von den zuständigen Gerichten entlastet. Die Rekruten, die Forstners Äußerungen an die Presse weitergegeben hatten, erhielten hingegen härtere Strafen.

Der Reichstag immerhin zeigte Haltung. Die Mehrheit missbilligte die Politik des Reichskanzlers, der formal für die Vorgänge verantwortlich war. Nur die Konservativen und einige Nationalliberale stimmten am 4. Dezember 1913 gegen den Misstrauensantrag. Zwar war der Kaiser nicht verpflichtet, Bethmann zu entlassen, aber das Ergebnis der Abstimmung bewies, dass das Parlament selbstbewusster wurde. Zum ersten Mal in der Geschichte der Volksvertretung hatten die Abgeordneten von diesem Recht Gebrauch gemacht. Am 19. März 1914 unterschrieb Wilhelm II. eine Verordnung, die in Zukunft nur dem Reichsstatthalter erlaubte, den Belagerungszustand zu verhängen.

Anfang August 1914 war es mit dem feucht-fröhlichen Leutnantsleben vorbei: Der Erste Weltkrieg brach aus. Wenn es einen Deutschen gab, der dem Ansehen des Kaiserreiches in Elsass-Lothringen nachhaltig geschadet hatte, dann war es der Leutnant Freiherr Günter von Forstner. Er fiel 1915 an der Ostfront.

 

 

Gedruckte Quellen:

Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1914. Ein historisches Lesebuch, 4. durchgesehene Aufl., Göttingen 1981

Hans Fenske (Hrsg.): Unter Wilhelm II. 1890 – 1918, Darmstadt 1982

 

Weiterführende Informationen:

Kaiserreich: „Zabernism“ – Die Zabern-Affäre von 1913 – Bilder & Fotos – WELT

Bildnachweis für das Beitragsbild: Wikimedia Commons

 

Literatur:

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Band II: Machtstaat vor der Demokratie, 3. durchgesehene Aufl., München 1995

Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreiches 1871 – 1918, München 2020

Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Frankfurt/M. 1995

Hans-Günter Zmarzlik, Bethmann Hollweg als Reichskanzler 1909 – 1914. Studien zu Möglichkeiten u. Grenzen seiner innerpolitischen Machtstellung, Düsseldorf 1957

 

Der Beitrag wurde am 23. Januar 2023 überarbeitet.