Dr. Katharina Kellmann

Salvador Allende und die Unidad Popular

Salvador Allende und die Unidad Popular regierten von 1970 bis 1973 die Republik Chile. Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär gegen den demokratisch gewählten Präsidenten. Allende nahm sich das Leben, als Soldaten den Präsidentschaftspalast, die Moneda, stürmten. Wie kam es zu diesem Staatsstreich?

Am 4. September 1970 hatte Salvador Allende als Kandidat des linken Parteibündnisses Unidad Popular (UP) die Präsidentschaftswahl gewonnen. Mit 36,6 % der abgegebenen Stimmen konnte er sich knapp vor dem konservativen Kandidaten Jorge Alessandri behaupten, den 35,3 % der Chilenen gewählt hatten. Radomiro Tomic, der Anwärter der Christdemokraten auf das Amt des Staatsoberhauptes, landete mit 28,1 % auf Platz 3. Ein Marxist hatte sich in freien Wahlen gegen das bürgerliche Lager durchgesetzt.

In den folgenden Wochen versuchten die USA, die in der Andenrepublik wirtschaftlich stark engagiert waren, Druck auf die chilenischen Christdemokraten auszuüben. Der stärksten Partei kam eine Schlüsselrolle zu. Nach der Verfassung von 1925 musste der Kongress, also die Abgeordneten des Parlaments und die Mitglieder des Senats, den Präsidenten bestimmen, wenn ein Kandidat im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten hatte.

 

Amtseinführung von Salvador Allende
Salvador Allende wird in sein Amt eingeführt. Hinter ihm sein Vorgänger Eduardo Frei. Quelle: http://historiapolitica.bcn.cl/hitos_periodo/ver_imagen?id=/JPG/168edc6c3a2ca6914540272c85fae692/vision_06101973_p22_1024.jpgvia Wikimedia Commons

 

In der Verfassungspraxis hatte sich dabei das Prinzip durchgesetzt, dass der Sieger des ersten Wahlgangs bestätigt wurde. Da die UP im Kongress keine Mehrheit hatte, kam es auf die Stimmen der christdemokratischen Abgeordneten und Senatoren an. Die Konservativen, organisiert in der Nationalpartei (NP), setzten auf den politischen und ökonomischen Druck der USA. Zwischen der chilenischen Oberschicht, die die NP repräsentierte, und den Vereinigten Staaten bestanden enge Beziehungen.

Neben dem ökonomischen Druck, bei dem schon 1970 Ratingagenturen eine wichtige Rolle spielten, gab es auch Pläne, die innenpolitische Situation durch Attentate zu erschüttern. Der Kongress sollte gezwungen werden, Allende nicht zu bestätigen und stattdessen Jorge Alessandri, den knapp unterlegenen Spitzenkandidaten der Nationalpartei, zu wählen. Alessandri sollte nach kurzer Amtszeit zurücktreten und damit hätte der noch amtierende christdemokratische Präsident Eduardo Frei, dem aufgrund der Verfassung 1970 eine Kandidatur versagt geblieben war, erneut antreten können.

Die Christdemokraten entschieden sich schließlich für die Wahl Allendes, nachdem der eine Erklärung abgegeben hatte, dass er die demokratische Verfassung respektieren würde. Ein marxistischer Sozialist stand nun an der Spitze Chiles. Würde das Land zu einem zweiten Kuba werden oder ergab sich hier zwei Jahre nach dem Prager Frühling die historische Chance zu beweisen, dass Demokratie und Sozialismus keine Gegensätze sind? Ein Abschnitt der chilenischen Geschichte begann, den einige als Experiment, andere als Revolution bezeichneten. Am 24. Oktober 1970 wählte der Kongress den Spitzenkandidaten der UP mit 153 von 195 Stimmen zum Staatspräsidenten.

Salvador Allende und die Unidad Popular

Wer war Salvador Allende? In der Präsidentenwahl von 1970 bewarb er sich zum vierten Mal für das höchste Staatsamt in Chile. Der 1908 geborene Allende entstammte dem gehobenen Bürgertum. Er war Mediziner, übte diesen Beruf aber nie aus und entschloss sich früh, Berufspolitiker zu werden. Politisches Engagement war in seiner liberal eingestellten Familie nichts Ungewöhnliches. Der junge Mediziner engagierte sich in der Sozialistischen Partei. 1937 wurde er in das Abgeordnetenhaus gewählt, und ein Jahr darauf ernannte ihn Präsident Pedro Aguierre Cerda zum Gesundheitsminister. Später setzte er seine Karriere als Senator fort.

Niemand außer Allende besaß innerhalb der Linken die Autorität, 1970 Kommunisten, Sozialisten und die eher bürgerlichen Radikalen für ein gemeinsames Wahlbündnis, die „Unidad Popular“ zu gewinnen. Was wollte die Unidad Popular? In ihrem Wahlprogramm strebte sie eine Überwindung des Kapitalismus an. Eine durchgreifende Bodenreform, die Nationalisierung der chilenischen Rohstoffvorkommen, vor allem des Kupfers, Verstaatlichungen von Banken und Schlüsselindustrien, eine verbesserte Gesundheitspolitik und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten in Politik und Gesellschaft für die Armen in Stadt und Land gehörten zu ihren Zielen.

In Chile gab es Mehrheiten für grundlegende Reformen. Schon 1964 hatte Eduardo Frei bei seinem Amtsantritt eine „Revolution in Freiheit“ versprochen. Immerhin konnte 1967 ein Agrarreformgesetz verabschiedet werden, das die teilweise Enteignung von Großgrundbesitzungen ermöglichte, soweit der Landbesitz 80 Basishektar fruchtbaren Bodens überstieg.

Auch die Kupfervorkommen lagen 1970 nicht mehr ausschließlich in den Händen amerikanischer Konzerne. Die Regierung Frei hatte in Verhandlungen 51 % der Aktienanteile erworben. Außerdem gelang es dem christdemokratischen Präsidenten eine Verfassungsreform durchzusetzen, die dem Staatsoberhaupt mehr Eingriffsmöglichkeiten in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gab. Die chilenischen Christdemokraten wollten – auch unterstützt von der deutschen CDU – durch Reformen die Armut bekämpfen und den Mittelstand fördern. An die anderen Länder in Mittel- und Südamerika sollte das Signal ausgehen, dass eine Reform des Kapitalismus möglich sei.

Die neue Regierung unter Präsident Allende ging sofort daran, ihr Wahlprogramm umzusetzen. Dem Parlament und dem Senat wurde ein Gesetz vorgelegt, dass die endgültige Nationalisierung des Kupfers vorsah. Sozialpolitische Sofortmaßnahmen wie die Ausgabe eines halben Liters Milch an jedes Kind unter fünfzehn und die Verteilung an Schulkleidung für bedürftige Schüler sollten deutlich machen, dass die Unidad Popular es ernst meinte mit dem Ziel der Armutsbekämpfung. Ein weiteres wichtiges Gesetzesvorhaben sah die automatische Angleichung der Löhne und Gehälter an die Inflation vor. Die Landreform wurde wesentlich entschiedener durchgesetzt als unter der Regierung Frei.

Auch in der Außenpolitik setzte Allende Zeichen und löste sich von der einseitigen Westorientierung seiner Vorgänger. Mit Kuba, der DDR, der Volksrepublik China, Nordkorea und Nordvietnam wurden diplomatische Beziehungen angeknüpft. Der Elan trug Früchte: Bei den Kommunalwahlen am 4. April 1971 erreichte die Unidad Popular 50,8 % der Stimmen. Die Sozialisten hatten deutlich hinzugewonnen; die Opposition wirkte wie gelähmt. Doch gerade die Erfolge der ersten Monate sollten Allende bald vor schwere Probleme stellen.

Die Linke konnte 1970 die Präsidentenwahl für sich entscheiden, weil das chilenische Mehrparteiensystem am Ende der Sechzigerjahre in drei ungefähr gleich starke Lager gespalten war.

Die Rechte hatte sich in der Nationalpartei zusammengeschlossen. Sie vertrat die Interessen der Ober- und Mittelschicht in Stadt und Land. Großgrundbesitzer und Industrielle wählten die Nationalen, aber auch in der Landarbeiterschaft oder in den städtischen Unterschichten konnte die Nationalpartei mit einem fürsorglichen Sozialkonservatismus Stimmen gewinnen. Immerhin lag Alessandri am 4. September 1970 nur knapp hinter Allende.

Die Linke hatte sich in der Unidad Popular organisiert. Die Kommunistische Partei Chiles, die Sozialistische Partei Chiles, die Radikalen, mehrere Splitterparteien wie die linkskatholische „Bewegung für die Volksunion (MAPU)“, eine Abspaltung vom linken Flügel der Christdemokraten, und zwei kleine sozialdemokratische Parteien gehörten dazu.

Die Kommunisten und die Sozialisten waren marxistisch orientiert. Beide Parteien lehnten den sozialdemokratischen Reformismus westeuropäischer Prägung ab. Die Unterschiede bestanden darin, dass die Kommunisten sich an Moskau orientierten, während die Sozialisten den real existierenden Kommunismus ablehnten und im Gegensatz zur KPC den sowjetischen Einmarsch in die CSSR 1968 verurteilten. Teile der Sozialistischen Partei glaubten, die Überwindung des Kapitalismus könne nur wie in Kuba durch einen gewaltsamen Befreiungskampf erreicht werden. Allende musste für seine Überzeugung kämpfen, dass eine grundlegende Veränderung des Systems durch die Beteiligung an Wahlen möglich sei und dass die Linke die Radikalen als Bündnispartner bräuchten.

Die Radikalen waren die älteste Partei in Chile. Hinter ihnen stand vor allem die ländliche Mittelschicht. Mit ihrem sozialliberalen Programm, das auf Reformen setzte, hätten sie ein Bündnispartner für die Christdemokraten sein können. Doch die Radikalen vertraten entschieden das Prinzip einer Trennung von Kirche und Staat. Die Hinwendung zu den Linksparteien war unter den Radikalen allerdings auch umstritten. Selbst die Agrarreform von 1967 ging einigen Parteimitgliedern zu weit. Der konservative Flügel der Partei unterstützte Allende nicht. Ein eigener Kandidat der Radikalen hatte keine Chance, Präsident zu werden; bei den Parlamentswahlen 1969 erreichte die Partei noch 13,6 % der Stimmen. So entschied sich die Mehrheit für eine Mitarbeit in der UP.

Stärkste politische Kraft in Chile waren seit den Sechzigerjahren die Christdemokraten. In allen Schichten der Bevölkerung hatten sie Anhänger. Die Christdemokraten entwickelten sich während der Präsidentschaft von Eduardo Frei nach links. Ihr Präsidentschaftskandidat Radomiro Tomic vertrat ein betont antikapitalistisches Programm. Darin lag zu Beginn der Amtszeit eine Chance für Salvador Allende und die Unidad Popular. Die großen Gemeinsamkeiten zwischen der UP und den Christdemokraten schienen eine Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Christdemokraten als Zünglein an der Waage

Da die UP weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat über eine eigene Mehrheit verfügte, war sie auf eine Unterstützung der stärksten chilenischen Partei angewiesen. Die reaktionäre Haltung der Rechten bewog viele Abgeordnete und Senatoren der Christdemokraten, von einer Fundamentalopposition abzusehen.

Doch schon im Sommer 1971 wuchs innerhalb der Christdemokraten die Zahl derjenigen, die wie Eduardo Frei eine Zusammenarbeit mit der UP ablehnten. Zwar passierte das verfassungsändernde Gesetz über die Nationalisierung des Kupfers am 11. Juli 1971 einstimmig den Senat (selbst die Nationalpartei konnte sich der populären Forderung nicht entziehen), aber die beiden Oppositionsparteien knüpften wieder engere Bande. Bei einer Nachwahl zum Abgeordnetenhaus konnten sie sich am 18. Juli 1971 mit 50,9 % knapp gegen die UP durchsetzen.

Das chilenische Parteisystem geriet im Sommer 1971 in Bewegung. Eine kleine Gruppe linker Christdemokraten trennte sich von der Partei, weil sie die Annäherung an die Nationalpartei ablehnte, und unterstützte fortan als Christliche Linke die Regierung. Einen großen Nutzen konnte die Unidad Popular daraus nicht ziehen. Viel schwerwiegender für die Regierung Allende war die Spaltung der Radikalen Partei im August 1971. Unter dem Namen Radikale Linke blieb der gemäßigte Flügel des chilenischen Sozialliberalismus zuerst in der Unidad Popular, ehe er sich 1972 der Opposition anschloss.

Salvador Allende sah diese Entwicklung mit Sorge. Wollte er sein Programm innerhalb der Verfassung durchsetzen, benötigte er die Unterstützung des Mittelstandes. Gleichzeitig hatten der Wahlsieg und die ersten Erfolge der Regierung die Radikalisierung innerhalb der Unidad Popular gefördert. Der Generalsekretär der Sozialisten, Carlos Altamirano, sprach offen davon, dass die bürgerliche Legalität in eine revolutionäre Legalität übergehen müsse.

Die Hinwendung der Radikalen zum Marxismus bestärkte Wähler der Mitte in der Befürchtung, dass die neue Regierung ein kommunistisches Regime errichten wollte. Auf dem Lande kam es immer häufiger zu illegalen Landbesetzungen durch Bauern. Als sozialistischer Präsident wollte Allende nicht die Polizei einsetzen, aber sein Anspruch, mit verfassungsmäßigen Mitteln sein Programm in die Tat umzusetzen, wirkte deshalb nicht mehr so glaubwürdig wie im September 1970.

Während es für die Landreform immerhin eine gesetzliche Grundlage gab, fehlte sie für die Enteignung von Industriebetrieben und Banken. Die UP behalf sich mit einem juristischen Trick. Ein immer noch gültiges Dekret aus dem Jahr 1931 berechtigte die Regierung, Unternehmen, deren Gütererzeugung im öffentlichen Interesse lag, unter staatliche Kontrolle zu stellen, wenn die Produktion gefährdet war. Linke Gewerkschafter brachen einen Konflikt vom Zaun und der Wirtschaftsminister der UP, Pedro Vuskovic, unterstellte dann aufgrund des Dekretes 502 das Unternehmen der öffentlichen Hand.

Auch hier entstand eine Dynamik, die einerseits der Unidad Popular die Unterstützung der Ärmeren sicherte und die eigene Anhängerschaft mobilisierte, aber gleichzeitig in der Mittelschicht die Befürchtung steigerte, der Präsident wolle aus Chile ein zweites Kuba machen. Denn Allende steuerte auch in dieser Frage keinen klaren Kurs, sondern ließ seinen Wirtschaftsminister gewähren.

Die Nationalpartei strengte eine Ministeranklage gegen Vuskovic an. Die Christdemokraten lehnten den Antrag ab, forderten Allende aber auf, der illegalen Verstaatlichungspolitik Einhalt zu gebieten. Am 14. Oktober 1971 brachten sie ein verfassungsänderndes Gesetz in das Parlament ein, das genau festlegte, welche Betriebe verstaatlicht werden könnten. Die Wirtschaft sollte in einen staatlichen, einen privaten und einen privat-staatlichen Sektor eingeteilt werden.

Am 19. Februar 1972 stimmte der Kongress dem Gesetz zu, doch Allende lehnte die Unterzeichnung ab. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Christdemokraten der Nationalpartei weiter angenähert. Ihr Wahlbündnis mit der NP brachte den bürgerlichen Kräften bei den Nachwahlen im Januar 1972 Erfolge ein. Eher schädlich wirkte sich ein Staatsbesuch von Fidel Castro aus, der vom 10. November bis zum 4. Dezember 1971 Chile besuchte. Auch wenn Castro sich zum reformistischen Kurs Allendes bekannte; die Hitzköpfe in der Sozialistischen Partei und der außerparlamentarischen „Bewegung der revolutionären Linken“ (MIR) machten keinen Hehl daraus, dass der parlamentarische Weg in ihren Augen zum Scheitern verurteilt war.

1972: Die Krise verschärft sich

Im Jahr 1972 nahm die Polarisierung zu. Innerhalb der Unidad Popular diskutierte man auf zwei Strategietreffen den Kurs. Die Kommunisten unterstützten klar die Politik von Allende und wollten verhindern, dass sich die gemäßigten Radikalen von der Unidad Popular trennten. Die Sozialistische Partei dagegen setzte zunehmend auf außerparlamentarische Aktionen. In der Agrarpolitik waren die Meinungsverschiedenheiten besonders stark. Bei illegalen Landbesetzungen kam es zu Zusammenstößen zwischen Linksextremisten und der Polizei. Rechtsextremisten töteten Bauern, die nun Böden bewirtschafteten, der früher Großgrundbesitzern gehört hatten.

Die wirtschaftliche Entwicklung bereitete der Regierung zusätzliche Probleme und stärkte die Opposition. Noch 1971 wuchs das Bruttosozialprodukt um 8,5 %. Die Löhne der Arbeitnehmer stiegen im Durchschnitt um 35 %. Arbeitslosigkeit und Inflation sanken. Doch die Anzeichen für einen Umschwung waren da. Die Nationalisierung des Kupfers rief den Widerstand nordamerikanischer Konzerne auf den Plan. Die Firmen versuchten 1972 – unterstützt von der amerikanischen Regierung – einen weltweiten Boykott des chilenischen Kupfers durchzusetzen. Die Erlöse im Export stagnierten und damit auch die Devisenzufuhr.

Hinzu kamen wirtschaftspolitische Fehler der Unidad Popular. Die planlose Verstaatlichungspolitik führte zu Einbrüchen bei der Produktion. Die unter staatlicher Kontrolle stehenden Unternehmen wurden teilweise ineffizient gemanagt. Unternehmer, die noch nicht vom Dekret 502 betroffen waren, hielten sich mit Investitionen zurück. Die Lohnsteigerungen führten zu einem Kaufkraftüberhang, denn das Warenangebot konnte nicht in gleicher Weise gesteigert werden. Große Probleme warf die Forcierung der Landreform auf. Die Regierung musste Lebensmittel einführen, was Devisen kostete; Devisen, die für Investitionen vor allem im staatlichen Sektor fehlten.

In vielen Bereichen kam es zu Versorgungsschwierigkeiten. Vor Lebensmittelgeschäften bildeten sich lange Warteschlangen. Frauen aus den bürgerlichen Vierteln veranstalteten „Märsche der leeren Töpfe“. Daneben blühte ein Schwarzmarkt, dessen Preise für die Ärmeren unerschwinglich waren. Allende führte Gespräche mit den Christdemokraten und entließ schließlich Wirtschaftsminister Vuscovic. In einer öffentlichen Erklärung am 24. Juli 1972 räumte er Probleme ein, aber zu einer Kursänderung kam es nicht. Es fehlte eine abgestimmte Wirtschafts- und Finanzpolitik im Bereich Investitionen, Agrarproduktion und Devisenbeschaffung.

Am 9. Oktober 1972 traten die Fuhrunternehmer in einen landesweiten Streik. Der Einzelhandel schloss sich an. Die Regierung antwortete mit der Verstaatlichung von Speditionsunternehmen und rief schließlich in 21 Provinzen den Ausnahmezustand aus. Am 15. Oktober ordnete sie die befristete Gleichschaltung der Rundfunksender an.

Die Nationalpartei arbeitete mittlerweile offen auf einen Sturz der Regierung hin. Die bürgerkriegsähnliche Situation wurde schließlich durch einen Kompromiss zwischen der gemäßigten Opposition und Allende entschärft. Der Präsident bildete am 2. November 1972 ein neues Kabinett, in das die Oberbefehlshaber von Heer, Luftwaffe und Marine als Minister eintraten. Ein Heeresgeneral leitete nun das Innenministerium. Zusätzlich berief Allende den Chef der Einheitsgewerkschaft CUT als Arbeitsminister in die Regierung.

Die Unidad Popular war in die Defensive gedrängt worden, hatte aber die Kraftprobe bestanden. In den Streiktagen organisierten Komitees der UP die Lebensmittelversorgung und bewiesen, dass die Regierung von ihrer Basis unterstützt wurde. Die radikalen Kräfte in der UP fühlten sich in ihrer Ansicht bestärkt, dass der gesetzliche Weg zum Sozialismus gescheitert war. Allende sollte sich auf die revolutionären Kräfte stützen und den offenen Konflikt mit dem Bürgertum suchen.

Die Opposition hoffte auf die Kongresswahlen am 4. März 1973. Alle Abgeordneten des Parlaments und die Hälfte der Senatssitze bedurften einer neuen Legitimation. Würde die Opposition die 2/3 Mehrheit in beiden Häusern erringen, so konnte sie Allende des Verfassungsbruchs anklagen.

Bürgerkrieg, Militärputsch oder Plebiszit?

Trotz der vielen Probleme konnten die Parteien der Unidad Popular im Vergleich zu den Parlamentswahlen von 1969 ihren Stimmenanteil von 36 auf 44 % steigern. Die Opposition behauptete ihre Mehrheit im Kongress, aber die Christdemokraten mussten Verluste hinnehmen. Die Pattsituation blieb bestehen: Allende besaß keine eigene Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses, und die Opposition war nicht stark genug, um den Präsidenten mit verfassungsmäßigen Mitteln abzulösen. Der rechte Flügel der Christdemokraten bestimmte zunehmend die Politik der Partei.

Salvador Allende trug dafür eine Mitverantwortung. In seinen Augen hatte die UP die Wahlen gewonnen. Er entließ die Generale aus dem Kabinett und kündigte eine Forcierung der Verstaatlichungspolitik an. Der radikale Flügel der Sozialistischen Partei gewann wieder an Einfluss.

Auf der Straße kam immer häufiger zu Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung. Die Rechte hatte mit „Patria y Libertad“ (Vaterland und Freiheit) bereits 1970 eine paramilitärische Organisation geschaffen, die wie der MIR vor Gewalt nicht zurückschreckte. Der Kongress ging in den letzten Monaten vor dem Putsch dazu über, Allende das Gesetz des Handelns zu diktieren. Mehrmals bildete der Präsident das Kabinett um, denn die Opposition machte von den Möglichkeiten der Ministeranklage nun ständig Gebrauch. Am 29. Juni 1973 putschte ein Regiment des Heeres: Panzer rollten durch die Innenstadt von Santiago. Nach wenigen Stunden stellte sich heraus, dass die chilenischen Streitkräfte das Unternehmen nicht unterstützten.

Allende versuchte nun, die Militärs zur Rückkehr in das Kabinett zu bewegen. Die Generäle stellten Bedingungen, die für die Unidad Popular unannehmbar waren. Der Präsident sollte die von den Christdemokraten vorgeschlagene Verfassungsreform zur gemischten Wirtschaft unterschreiben. Hätte Allende dies getan, dann wäre die Unidad Popular auseinandergebrochen.

So vergingen die Monate Juli und August und die innenpolitische Krise spitzte sich zu. In einer Rundfunkrede musste der Präsident am 13. August 1973 einräumen, dass Chile am Rande eines Bürgerkrieges stünde. Vier Tage später traf er sich mit dem Führer der Christdemokraten, aber das Gespräch, das die katholische Kirche vermittelt hatte, endete ergebnislos. Die Opposition stellte Forderungen, die einer Selbstentmachtung der Unidad Popular gleichgekommen wäre. Am 23. August verabschiedete das Abgeordnetenhaus mit 81 gegen 47 Stimmen eine Erklärung, die die Regierung als illegal bezeichnete. Die Resolution war juristisch ohne Bedeutung, aber sie zeigte, dass die Fronten sich verhärteten.

In den folgenden Tagen entglitt Allende immer mehr die Kontrolle – auch in der eigenen Partei. Am 9. September 1973 erklärte Carlos Altamirano, dass die Sozialistische Partei keine Abstriche am Wahlprogramm der UP hinnehmen und dies auch von Allende erwarten würde. Der revolutionäre Weg sei fortzusetzen und die Arbeiterklasse würde einem neuen Staatsstreich mit Gewalt entgegentreten.

Die Christdemokraten forderten am gleichen Tag den Rücktritt des Präsidenten und die Neuwahl des Abgeordnetenhauses. Angesichts dieser Entwicklungen soll sich Salvador Allende am Abend des 9. September dazu entschlossen haben, ein Plebiszit über die Fortsetzung seiner Amtszeit vorzuschlagen. Die Kommunistische Partei unterstützte wie einige Christdemokraten des linken Flügels den Plan, während die Sozialisten ihn ablehnten. Am nächsten Tag wollte Allende über den Rundfunk und das Fernsehen die Abstimmung ankündigen. Warum dies nicht geschah, ist noch heute umstritten.

Der Aufschub war fatal: Am 11. September 1973 schlug das Militär zu. Im ganzen Land übernahmen Heereseinheiten die Kontrolle. Um 8.00 Uhr forderten die Oberbefehlshaber von Heer, Marine und Luftwaffe und Polizei den Präsidenten zum Rücktritt auf. Um die Mittagszeit griffen Flugzeuge der Luftwaffe die Moneda an. Allende erkannte, dass die Lage aussichtslos war und ging auf das Ultimatum der Militärs ein. Als die Soldaten um 14.00 Uhr den Präsidentenpalast betraten, fanden sie Allende tot vor: Er hatte sich erschossen.

Militärputsch in Chile
11. September 1973: Der Präsidentenpalast wird angegriffen. Quelle: http://historiapolitica.bcn.cl/hitos_periodo/ver_imagen?id=/JPG/9879899b59c576808adc84087e928318/ercilla_11091973_p7_1024.jpg via Wikimedia Commons
Chile wird Militärdiktatur

Eine Militärjunta unter der Führung von General Pinochet übernahm die Macht. Im Juni 1974 ernannte sich Pinochet zum Präsidenten. Die Parteien der UP wurden verboten, den Christdemokraten und den Gewerkschaften wurde jede Betätigung untersagt, die Nationalpartei löste sich auf. In den Wochen nach dem Putsch wurden Tausende verhaftet, gefoltert und ermordet. Während es unter Allende, der angeblich aus Chile ein zweites Kuba machen wollte, keine politischen Gefangenen gab, waren nun die Gefängnisse überfüllt. Die Militärs nutzten das Nationalstadion von Santiago, um dort politische Häftlinge unterzubringen.

Der Ostblock beließ es bei Protesten und kaufte schon bald von der Junta chilenisches Kupfer. In Westeuropa reagierte man unterschiedlich. Kommunistische und sozialdemokratische Parteien verurteilten das Regime. Die europäischen Christdemokraten und Konservativen machten keinen Hehl daraus, dass sie den Staatsstreich begrüßten. Auch die USA hatten offen die Opposition unterstützt und arbeiteten mit der Militärjunta eng zusammen.

Besonderen Widerhall fand der Putsch in Deutschland. Bürgerliche Zeitungen wie die „FAZ“ und die „WELT“ hielten die Machtübernahme durch das Militär für nötig. Innerhalb der CDU relativierte man die Menschenrechtsverletzungen und zählte Chile wieder zur ‚freien Welt‘. Aber auch die sozialliberale Koalition ging nach Protesterklärungen zur Tagesordnung über.

An Salvador Allende und die Unidad Popular zu erinnern, bedeutet nicht, die Jahre 1970 bis 1973 zu idealisieren. Die demokratische Linke tut gut daran, ihre Lehren aus dem Scheitern der UP zu ziehen. Die Kommunistische Partei Italiens beispielsweise zog daraus die Schlussfolgerung, dass grundlegende Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nur durch einen ‚historischen Kompromiss‘ mit Teilen des Bürgertums zu erreichen wären.

Die UP war ein Produkt chilenischer Verhältnisse und eignet sich nicht als Modell. Aber Sozialdemokraten und Sozialisten sollten die Unidad Popular nicht als romantisches Experiment abtun. Salvador Allende hat trotz seines Scheiterns den Nachweis erbracht, dass Marxisten Demokraten sein können. Und dies allein sichert ihm einen Platz in der Geschichte des Sozialismus.

 

Weiterführende Informationen:

„DANN KÖNNEN DIE KINDER IN MILCH BADEN“ – DER SPIEGEL 38/1970

Ein Interview, das Salvador Allende unmittelbar nach dem Wahlsieg am 11. September 1970 mit dem Nachrichtenmagazin „SPIEGEL“ führte.

„Kämpfen bis zum Ende“ – DER SPIEGEL 38/1973

 

Der Beitrag wurde am 13. September 2021 überarbeitet.