Dr. Katharina Kellmann

Die Nationalliberale Partei

Die Nationalliberale Partei spielte im Kaiserreich eine wichtige Rolle. In den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts rang sie Bismarck freiheitliche Zugeständnisse ab. Danach schien die Partei bis zur Jahrhundertwende ihre liberalen Wurzeln vergessen zu haben. Nach 1900 besannen sich die Nationalliberalen im Reich erneut auf ihre freiheitlichen Ideale. In diesem Aufsatz geht es um die wechselvolle Geschichte einer Partei, die das Kaiserreich zeitweise stark beeinflusst hat. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 löste sich die Partei auf.

Inhaltsverzeichnis:

  • Die Gründung der Nationalliberalen Partei
  • Die Abwendung der Nationalliberalen von Bismarck
  • Flügelkämpfe in der Nationalliberalen Partei
  • Die „Sammlungspolitik“
  • Zurück zur liberalen Mitte
  • Die Nationalliberale Partei im Urteil der Historiker

 

Karl Twesten
Karl Twesten (1820 bis 1870) gehörte zu den Gründern der Nationalliberalen Partei (Wikimedia Commons).

 

Die Gründung der Nationalliberalen Partei

Die Nationalliberale Partei (NLP) wurde 1867 gegründet. In ihr schlossen sich die Liberalen zusammen, die die strikte Oppositionspolitik der linksliberalen Fortschrittspartei im preußischen Verfassungskonflikt ablehnten. Die NLP wollte „auf den gegebenen Grundlagen die Einheit Deutschlands zu Macht und Freiheit herstellen.“ Die gegebenen Grundlagen – hinter dieser Formulierung verbarg sich das Eingeständnis, dass sich der preußische Kanzler im Verfassungskonflikt durchgesetzt hatte. Eine liberale Mehrheit konnte einem konservativen Regierungschef nicht ihren politischen Willen aufzwingen. Aber die Regierung war auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen, um Gesetze zu verabschieden. Die NLP suchte deshalb die Zusammenarbeit, denn Bismarck schien das gleiche Ziel zu haben wie die Liberalen: die deutsche Einheit unter Vorherrschaft Preußens. Einheit und Freiheit bedingten für die Nationalliberalen einander. Diese Liberalen gründeten am 12. Juni 1867 die Nationalliberale Partei. Mittlerweile gab es keinen Deutschen Bund mehr. Österreich musste sich aus der deutschen Politik zurückziehen (Die Schlacht von Königgrätz — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de). Ein Norddeutscher Bund unter Führung Preußens entstand 1867.

Baden, Württemberg, Hessen, Thüringen, Mecklenburg und Hannover galten als Hochburgen der NLP. Die Nationalliberalen verstanden sich als Vertreter des „liberalen Volkes“. Die Vorstellung, sie wären die Partei der „Bewegung“, also der Opposition gegen die Regierung, stimmte mit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht überein. In den Teilen Deutschlands, in denen die Industrialisierung begonnen hatte, entstand eine Arbeiterbewegung, die sich vom Liberalismus abwandte. In der katholischen Bevölkerung gab es ebenfalls Vorbehalte gegenüber dem liberalen Alleinvertretungsanspruch, denn die liberalen Parteien wollten den Einfluss der Kirche auf die Schulpolitik zurückdrängen. Viele liberale Politiker gehörten außerdem der protestantischen Kirche an.

Das Gründungsprogramm der NLP war aber keine Kapitulationsurkunde des organisierten Liberalismus. In den ersten Jahren ihres Bestehens betonte die Nationalliberale Partei die Bedeutung des Parlaments, der „Vereinigung der lebendig wirkenden Kräfte der Nation“. Sie nahm für sich in Anspruch, dass gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für Männer durchgesetzt zu haben – was allerdings nur für die Wahlen zum Parlament des Norddeutschen Bundes galt. Im Königreich Preußen beispielsweise galt das undemokratische Dreiklassenwahlrecht.

In den ersten Reichstagswahlen nach 1871 stellte die Nationalliberale Partei die stärkste Kraft im Reichstag. Der Reichskanzler brauchte einen Bündnispartner, um wichtige Gesetze zu verabschieden. In den ersten Jahren des Kaiserreiches konnten die Nationalliberalen starken Einfluss auf die Wirtschafts- und Finanzgesetzgebung ausüben. Gleichzeitig unterstützten sie die Regierung im sogenannten „Kulturkampf“, einer Auseinandersetzung zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche. Bismarck nutzte den Konflikt zum Ausbau seiner Macht und führte unter anderem die obligatorische Zivilehe ein.

Die Abwendung der Nationalliberalen von Bismarck

In der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre strebte der Reichskanzler eine Neuorientierung in der deutschen Politik an, die 1878/79 mit der „Zweiten Reichsgründung“ ihren Höhepunkt erreichte. Bismarck näherte sich wieder den Konservativen. Er wollte den „Kulturkampf“ beenden und die Wirtschafts- und Steuerpolitik ändern. Die finanzielle Abhängigkeit des Reiches von den Bundesstaaten sollte beendet werden. Nach der Reichsverfassung von 1871 standen die direkten Steuern den Bundesstaaten zu, die wiederum bestimmte Beträge an das Reich abführten. Dabei kamen dem Reichskanzler mehrere Umstände zur Hilfe. Die wirtschaftliche Entwicklung verschlechterte sich. Innerhalb der Nationalliberalen gab es mehrere Strömungen. Der rechte Flügel der Partei lehnte Schutzzölle nicht grundsätzlich ab. In einigen Landesverbänden der NLP herrschte die Ansicht vor, dass Liberale und Konservative sich auf ein Bündnis einigen könnten.

Das Parteisystem veränderte sich. Mit dem katholischen Zentrum wuchs eine Partei heran, die in der Schule den Einfluss der Kirche wieder stärken wollte. Die sozialistische Arbeiterbewegung entwickelte sich für viele Nationalliberale zu einer Gefahr für Staat und Gesellschaft. Den freiheitlichen Ausbau der Reichsverfassung hielten diese Liberalen für abgeschlossen. In ihren Augen gab es mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze zwischen Liberalen und Konservativen. Der badische Liberale Julius Jolly veröffentlichte 1880 ein Buch, in dem er die Annäherung der Nationalliberalen an die Konservativen begründete. Die gemäßigten Liberalen, so Jolly, sähen in den Konservativen nicht mehr Gegner, mit denen keine Verständigung möglich sei, sondern Verbündete.

Bekannte Politiker der Nationalliberalen Partei
Bekannte Politiker der Nationalliberalen Partei 1881. Zeichnung von Adolf Neumann aus dem Jahr 1881 für die Zeitschrift „Die Gartenlaube“. Quelle: Wikimedia Commons

Bismarck hatte 1877 dem Nationalliberalen Rudolf von Bennigsen das Angebot gemacht, als Staatssekretär in das Kabinett einzutreten. Bennigsen wollte dieses Angebot nur annehmen, wenn zwei seiner Parteifreunde vom linken Flügel ebenfalls in Regierungsämter berufen worden wären – für den Kanzler und den Kaiser undenkbar. Die Beteiligung der Partei an der Regierung scheiterte.

1878 wurden zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt. Bismarck nutzte die Gelegenheit, nach dem zweiten Attentat ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten im Reichstag durchzubringen, das Sozialistengesetz. Die Mehrheit der Nationalliberalen stimmte dafür, obwohl es liberalen Prinzipien widersprach. Die SPD wurde zwar nicht verboten, aber sozialdemokratische Propaganda war bei Strafe untersagt. Sozialdemokraten konnten dazu gezwungen werden, ihren Wohnsitz aufzugeben. Das Gesetz stempelte die Mitglieder der Partei zu Staatsbürgern zweiter Klasse ab. Auch der linke Flügel der NLP verwarf die Ziele der Sozialdemokratie, glaubte jedoch nicht an die Wirksamkeit von Ausnahmegesetzen. Zu Beginn der Achtzigerjahre trennten sich Angehörige der gemäßigten Linie als „Sezessionisten“ von der Partei.

Rudolf von Bennigsen versuchte, die Nationalliberale Partei auf einer mittleren Linie zu halten, aber die Annäherung an die Konservativen konnte auch er nicht verhindern. 1881 verabschiedeten die Nationalliberalen ein Parteiprogramm, in dem die Parteiführung sich bemühte, die Flügelkämpfe zu beenden. Der Historiker James Sheehan kommt zu dem Urteil: „Das Programm war ein bravouröses Beispiel für rhetorische Unverbindlichkeit; die verschiedenen Gruppen in der Partei konnten die unterschiedlichsten Dinge aus ihm herauslesen.“ 1883 resignierte Bennigsen und legte seine Ämter nieder.

Flügelkämpfe in der Nationalliberalen Partei

Die NLP war nicht zu einer entschiedenen Opposition bereit. Der rechte Flügel wurde immer stärker. Nun bestimmten Politiker wie der Frankfurter Oberbürgermeister Johannes von Miquel die Linie. 1884 beschloss eine Gruppe von Nationalliberalen in Heidelberg ein Manifest, dass eine Zusammenarbeit mit den Freikonservativen und Deutsch-Konservativen ermöglichte. Die NLP stimmte Schutzzöllen im Prinzip zu und lehnte die staatliche Sozialpolitik Bismarcks im Gegensatz zu den Linksliberalen nicht grundsätzlich ab. Dass die Nationalliberalen sich mittlerweile als beinahe bedingungslose Verteidiger der bestehenden Ordnung definierten, zeigt Punkt 12 des Manifests:

„Sie (die Nationalliberalen, die Verf.) erkennen in der Aufrechterhaltung der Ordnung und eines gesicherten Rechtszustandes die erste Pflicht des Staates, werden bereitwillig die Reichsregierung die zur Abwehr staatsgefährlicher Umtriebe erforderlichen Machtmittel gewähren und erachten deshalb die Verlängerung des Sozialistengesetzes für dringend geboten.“

Die Parteiführung in Berlin schwenkte auf den Kurs von Miquel ein. Bei den Reichstagswahlen im Jahr 1887 wurde die NLP noch einmal zur zweitstärksten Partei. Nur die Konservativen erzielten mit 25 % ein besseres Ergebnis. In den nächsten drei Jahren bildeten die beiden Parteien im Reichstag eine informelle Koalition und stützten die Politik Bismarcks.

1890 erlitt die Nationalliberale Partei starke Verluste bei den Reichstagswahlen. Statt 22,3 % erhielt sie 16,3 % der abgegebenen Stimmen. Beim nächsten Urnengang 1893 sank sie auf 13 % ab. Bis 1912 lag sie zwischen 13 und 14,5 %. Ihre parlamentarische Schlüsselstellung musste die NLP an das Zentrum abgeben, eine Partei der rechten Mitte, die den politischen Katholizismus in Deutschland repräsentierte.

Die „Sammlungspolitik“

Die Zusammenarbeit zwischen der Nationalliberalen Partei und der Deutsch-Konservativen Partei auf Reichsebene wurde unter dem Stichwort „Sammlungspolitik“ 1897 noch einmal zum Leitmotiv der NLP. Johannes von Miquel, mittlerweile preußischer Finanzminister, warb dafür, dass Industrie, Landwirtschaft und Mittelstand sich zur Verteidigung der bestehenden Ordnung vereinigten. Eine Regierung aus gemäßigten Liberalen und gemäßigten Konservativen war das Ziel. Auch Kaiser Wilhelm II. unterstützte dieses Projekt. Der Monarch war kein bedingungsloser Parteigänger der Deutsch-Konservativen-Partei. Ihm schwebte ein Block der rechten Mitte mit der Rechten vor, die den vermeintlichen „Umsturz“, so wurden die Sozialdemokraten genannt, bekämpfen sollten. Die Nationalliberalen als Partei verschiedener Industriezweige und die Konservativen als Vertreter der Landwirtschaft sollten ihre Interessengegensätze überwinden und sich gegen die Kräfte im Innern wenden, die eine Demokratisierung der politischen Ordnung anstrebten.

Zurück zur liberalen Mitte

An der Basis gab es Stimmen, die sich um eine Neudefinition liberaler Politik bemühten. Seit 1901 versuchten Teile der Nationalliberalen, sich von der Sammlungspolitik zu distanzieren. Ihr neuer Vorsitzender, Ernst Bassermann, lehnte Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokraten ab und befürwortete eine Weiterführung der staatlichen Sozialpolitik und des deutschen Flottenbaus. Er erteilte aber auch Überlegungen der Linksliberalen zu einem Bündnis der liberalen Parteien mit der Sozialdemokratie eine Absage. Bassermann sorgte dafür, dass während der Kanzlerschaft von Reichskanzler Bülow (1900 bis 1909) die Nationalliberalen die Regierungspolitik stark beeinflussen konnten. Zwischen 1907 und 1909 kam es zum sogenannten Bülowblock, einer Zusammenarbeit der Linksliberalen, Nationalliberalen und Konservativen im Reichstag, die die Politik des Reichskanzlers unterstützte. Aber die Gegensätze zwischen Linksliberalen und Konservativen waren zu groß und so scheiterte der Bülowblock.

Die Nationalliberale Partei verteidigte die bestehende Ordnung und trat nur für behutsame Korrekturen ein. In der sogenannten Daily-Telegraf-Affäre  sprach sich Ernst Bassermann im Reichstag gegen eine Parlamentarisierung Deutschlands aus. Er übte Kritik am Monarchen und setzte sich für eine machtbetonte Außenpolitik ein. Der Nationalliberale Robert Friedberg forderte 1911 im preußischen Abgeordnetenhaus, das Land brauche eine Regierung, die unabhängig über den Parteien stünde. Im Großherzogtum Baden kam es dagegen zwischen 1909 und 1913 im Landtag zu einer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokraten, Demokraten und Nationalliberalen. Die Parteien setzten eine Steuerreform, ein neues Volksschulgesetz und eine Reform des kommunalen Wahlrechts durch. Die pragmatische Haltung der badischen Sozialdemokraten begünstigte diesen „Badischen Großblock“. Im Reich hingegen gab es für eine „Koalition von Bassermann und Bebel“ (August Bebel war der Vorsitzende der SPD im Reich) keine Chance.

Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstand in der NLP eine Strömung, als deren bekanntester Vertreter der junge Gustav Stresemann galt. Diese Gruppierung stand der Sammlungspolitik kritisch gegenüber. Stresemann betrachtete Flottenbau und Kolonialpolitik als Möglichkeit, den Staat und die Arbeiterschaft miteinander auszusöhnen. Auf dem Parteitag in Goslar 1906 hatte er eine soziale Öffnung der Partei gefordert:

„Wir müssen mit allen Schichten, mit Handwerkern, mit den Arbeitern Fühlung suchen.“

Gustav Stresemann
Gustav Stresemann (Aufnahme aus den Jahren 1928/29). Quelle: Bundesarchiv, Bild 146-1989-040-27 / Unbekannt / CC-BY-SA 3.0 (Wikimedia Commons

 

Bei den Reichstagswahlen 1907 gewann Stresemann einen Wahlkreis, der von den Sozialdemokraten gehalten worden war. Der Nationalliberale verteidigte die sogenannte „Weltpolitik“, weil sie auch dem Arbeiter Vorteile brächte. Gleichzeitig plädierte Stresemann dafür, die Partei stärker an wirtschaftlichen Interessen auszurichten. Bassermann wies dies zurück und meinte, dann würden die Interessengegensätze zwischen den verschiedenen Industriezweigen aufbrechen und dies würde die NLP schwächen.

„Wir sind eine Mittelpartei, alle Berufsschichten umfassend und gezwungen, deshalb die mittlere Linie zu halten. Aus diesem Grunde war es niemals für uns möglich, in irgendeiner Klassenbewegung die Führung zu bekommen oder die energischen führenden Klassenelemente zu befriedigen.“

Die Nationalliberale Partei im Urteil der Historiker

Waren die Nationalliberalen wirklich eine Mittelpartei, die alle Berufsschichten umfasste? In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass die Liberalen lange Zeit hindurch eine bürgerliche Honoratiorenparteien blieben. „Der typische liberale Wähler“, so James Sheehan, „war also Protestant und irgendwo im mittleren Bereich der Klassen- und Statushierarchie angesiedelt.“ Dieter Langewiesche macht in seiner „Geschichte des Liberalismus in Deutschland“ die schlechte Quellenlage dafür verantwortlich, dass über die genaue Zusammensetzung der Parteivereine nicht viel bekannt ist. Eine Analyse der lokalen und regionalen Führungsgremien und der Fraktionen in den Parlamenten lässt seiner Meinung nach einen Schluss zu: „Die Nationalliberale Partei repräsentierte Bildung und Besitz“.

Nach offiziellen Angaben der Nationalliberalen waren 1910 12 % ihrer Mitglieder, also 24 000 Menschen, Arbeiter. In der Forschung sind diese Zahlen umstritten. Tatsache ist, dass die Nationalliberalen zaghafte Versuche machten, auch in der Arbeiterschaft Fuß zu fassen, doch nennenswerten Einfluss erlangten sie dort nicht. Die Zerrissenheit der Partei konnte ab 1912 nur durch das taktische Geschick Ernst Bassermanns überwunden werden. Teile der Industrie hielten ihn für einen „Halbsozialisten“. In Baden kam es – wie erwähnt – zu einer Zusammenarbeit zwischen Nationalliberalen und Sozialdemokraten. In Preußen lehnten die Nationalliberalen eine grundlegende Reform des undemokratischen Dreiklassenwahlrechts ab. Der sozialdemokratische Wahlsieg bei den Reichstagswahlen 1912 verstärkte die konservativen Tendenzen in der Partei. Der Preis für die Einheit der Nationalliberalen war hoch: Sie verloren an Profil. James Sheehan vermutet, dass der Partei 1914 eine Spaltung gedroht hätte, die nur durch den Kriegsausbruch verhindert worden wäre.

Im Ersten Weltkrieg wurden die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Flügeln der Partei größer. 1917 plädierte der reformorientierte Flügel der Nationalliberalen für innenpolitische Reformen, die den Einfluss des Reichstages vergrößern sollten. Zu einem klaren Bekenntnis zu einer parlamentarischen Monarchie konnte sich die NLP nicht durchringen.

Nach dem Zusammenbruch der Monarchie im November 1918 zerfiel die Partei. Gustav Stresemann gründete die rechtsliberale Deutsche Volkspartei. Eugen Schiffer oder Hartmann von Richthofen schlossen sich der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei an.

Ein Fazit

Die Nationalliberale Partei trat 1867 mit dem Ziel an, die Politik Bismarcks zu unterstützen, gleichzeitig jedoch liberale Grundwerte durchzusetzen. Sie lehnten die grundsätzliche Opposition der Fortschrittspartei ab und begrüßten die Gründung des Norddeutschen Bundes 1867 und des Deutschen Kaiserreiches 1871. In den ersten Jahren nach der Reichsgründung konnten sie vielen Gesetzen eine liberale Handschrift verleihen.

Die zweite Hälfte der Siebzigerjahre zeigte aber auch, dass die Nationalliberalen in vielen wichtigen Fragen keinen gemeinsamen Standpunkt fanden. In der Partei gab es Gegner und Befürworter der Schutzzollpolitik. Die Haltung der Nationalliberalen zum Sozialistengesetz war ebenfalls nicht eindeutig. Der Soziologe Max Weber schrieb später, die Nationalliberale Partei sei gescheitert, „weil Bismarck keine wie immer geartete irgendwie selbstständige, d. h. nach eigenen Verantwortlichkeiten handelnde Macht neben sich zu dulden vermochte.“ Für den großen Soziologen spielte die NLP nach der „Zweiten Reichsgründung“ und der Abspaltung der „Sezessionisten“ 1880 keine nennenswerte Rolle mehr. Doch dadurch wird die Rolle der Nationalliberalen nach 1880 in meinen Augen unterschätzt. Sie waren nach rechts gerückt und hatte ihre starke Stellung im Reichstag verloren. Bis 1914 aber blieben sie eine politisch relevante Kraft.

Das Problem der Nationalliberalen bestand darin, dass sie ihre Rolle in einer industriellen Massengesellschaft nicht definieren konnten. Das gleiche Männerwahlrecht führte zu einer Demokratisierung der Politik. Die NLP hätte neue Wählerschichten für sich gewinnen müssen. Vor dem Ersten Weltkrieg versuchten sie dies bei den Angestellten – allerdings war diese Entscheidung in der Partei umstritten. Gleichzeitig weigerten sich die bürgerlichen Eliten, Macht abzugeben. Die deutschen Parteien konnten im System der konstitutionellen Monarchie daher kein Verantwortungsgefühl entwickeln. Die Nationalliberalen wollten zwar kein Regiment der Junker und Offiziere, aber den Weg zu einer bürgerlichen Interessenpartei in einer parlamentarischen Monarchie lehnten sie ebenfalls ab. Stärker noch als die Linksliberalen fürchteten sie eine Demokratisierung. Ihr Ideal blieb die vom Parlament unabhängige Regierung. Noch zu Beginn des Jahres 1914 betonte Ernst Bassermann, die Partei strebe gar kein parlamentarisches Regime an.

In einer Gesellschaft, die immer pluralistischer wurde, in der auch die preußischen Großgrundbesitzer sich als Interessengruppe betätigten, in der die wirtschaftlichen Verteilungskämpfe zunahmen, geriet die NLP in die Defensive. Versuche, die Kolonial- und Flottenpolitik des Kaiserreiches zu einem tragfähigen Politikkonzept zu machen, scheiterten. In der Gesellschaft fehlte dazu die Massenbasis. Von den Idealen der Gründergeneration aus dem 19. Jahrhundert blieb nicht mehr viel. Die nationale Einheit war wichtiger als die Freiheit geworden. Genauer gesagt: die Freiheit mit obrigkeitlicher Bewilligung.

 

 

Beiträge auf dieser Homepage, die mit dem Thema zu tun haben:

Liberalismus im Reich und in Baden, 1871-1918 – Orte der Demokratiegeschichte (demokratie-geschichte.de)

https://katharinakellmann-historikerin.de/verfassungskonflikt-in-preussen/.

Ein Beitrag zum preußischen Verfassungskonflikt.

(Die Daily-Telegraph-Affäre — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

Ein Beitrag mit Informationen zur Daily-Telegraph-Affäre.

 

 

 

 

Gedruckte Quellen:

Gerhard A. Ritter (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1914. Ein historisches Lesebuch, 4. durchgesehene Aufl., Göttingen 1981

Hans Fenske (Hrsg.): Im Bismarckschen Reich 1871 – 1890, Darmstadt 1978

Hans Fenske (Hrsg.): Unter Wilhelm II. 1890 – 1918, Darmstadt 1982

 

Literatur:

Gerd Fesser, Reichskanzler Fürst von Bülow. Architekt der deutschen Weltpolitik, Leipzig 2003

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866 – 1918. Band II: Machtstaat vor der Demokratie, 3. durchgesehene Aufl., München 1995

Christoph Nonn, 12 Tage und ein halbes Jahrhundert. Eine Geschichte des Deutschen Kaiserreiches 1871 – 1918, München 2020

Peter Ullmann, Das Deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, Frankfurt/M. 1995

Peter Winzen, Das Kaiserreich am Abgrund. Die Daily Telegraph-Affäre und das Hale-Interview von 1908. Darstellung und Dokumentation. Franz Steiner, Stuttgart 2002

 

 

Der Beitrag wurde am 3. Februar 2021 überarbeitet.