Dr. Katharina Kellmann

Verfassungskonflikt in Preußen

Verfassungskonflikt in Preußen: Zwischen 1862 und 1866 kam es zu einer Machtprobe zwischen der Krone und den liberalen Kräften. Das Kabinett wollte das Heer vergrößern. Die Abgeordneten der preußischen Kammer hätten den zusätzlichen Ausgaben zustimmen müssen. Die liberale Mehrheit lehnte die Gesetzesvorlagen des Ministerpräsidenten Otto von Bismarck ab. Der preußische Ministerpräsident ließ sich davon nicht beeindrucken und setzte seine Militärpolitik fort. Zwischen 1863 und 1866 regierte er ohne einen verfassungsmäßig zustande gekommenen Haushalt. Bei den Parlamentswahlen 1866 erzielten die Konservativen, die der Regierung nahestanden, große Gewinne. Bismarck brachte in der Kammer die „Indemnitätsvorlage“ ein, die die Haushalte der Jahre 1863 bis 1866 nachträglich legalisieren sollten. Die Mehrheit der Liberalen gab ihre Opposition auf und stimmte mit den Konservativen für die Regierungsvorlage. Warum setzte sich die Regierung durch? Welche Folgen hatte dies für die politische Entwicklung in Deutschland?

1858: Der Verfassungskonflikt in Preußen beginnt

1858 übernahm in Preußen Prinz Wilhelm, der älteste Bruder des unheilbar erkrankten Königs, die Regentschaft. Wilhelm war ein Konservativer, der in sein erstes Kabinett auch liberale Minister berief. Zeitgenossen und Historiker sprachen von einer „Neuen Ära“, da sich eine vorsichtige Öffnung der konservativ-reaktionären Politik anzubahnen schien. Der Prinzregent war nicht mehr wie sein Bruder, König Friedrich-Wilhelm IV. bereit, im Deutschen Bund Österreich den Vortritt zu lassen.

Für eine neue Außenpolitik benötigte das Königreich eine größere Armee. Die Präsenzstärke der Streitkräfte beruhte immer noch auf der Bevölkerungszahl von 1815. Seitdem hatte sich die Bevölkerung fast verdoppelt. Der Chef des Generalstabes, General von Moltke, wollte das Heer von 150 000 auf 200 000 Mann vergrößern. Die Dauer des Wehrdienstes sollte fortan drei Jahre betragen. Die Landwehr, eine bürgerliche Miliz aus der Zeit der Befreiungskriege 1813/1814, wollte die Heeresleitung auf Aufgaben in der Etappe beschränken, denn die Kampfkraft der Bürgerwehr galt als gering.

In der preußischen Abgeordnetenkammer begrüßte man grundsätzlich die Heeresvermehrung, aber viele Parlamentarier lehnten die Verlängerung des Wehrdienstes ab. Außerdem forderten sie von der Regierung, die Mehrausgaben im Haushaltsplan genauer auszuweisen. Ohne Billigung der Kammer und des Herrenhauses konnte kein Haushalt in Kraft treten. Prinz Wilhelm betrachtete das Militär als Domäne der Krone, die der Zuständigkeit des Parlaments entzogen sei. Nur die Gesamtsumme der Mehrausgaben wollte man benennen. Kriegsminister von Bonin, ein gemäßigter Liberaler, trat aus Protest zurück. Sein Nachfolger wurde der konservativ-reaktionäre General Albrecht von Roon. Von 1859 bis 1861 billigte die Abgeordnetenkammer die Gelder. Die Regierung begann 1860 mit der Aufstellung neuer Regimenter.

 

Albrecht Graf Roon
Heeresminister im preußischen Verfassungskonflikt: Albrecht Graf von Roon (Wikimedia Commons).

 

1861 starb der kinderlose König. Der Prinzregent bestieg als Wilhelm I. den preußischen Thron. Die liberalen Ansätze der „Neuen Ära“ gerieten in Vergessenheit. Die Heeresreform entwickelte sich zum preußischen Verfassungskonflikt.

Die Opposition geht auf Konfrontationskurs im Verfassungskonflikt

1861, 1862 und 1863 löste die Regierung das Parlament auf und schrieb Neuwahlen aus. Doch bei jedem Urnengang setzten sich die Liberalen durch. Die größte Fraktion innerhalb der Opposition stellte die 1861 gegründete Deutsche Fortschrittspartei (DFP). Die DFP strebte eine konstitutionelle Monarchie an. Sie forderte ein Gesetz über die Ministerverantwortlichkeit, eine unabhängige Justiz und mehr Rechte für die Kommunen. Das Programm hätte dazu geführt, dass der Einfluss der Konservativen auf die Beamtenschaft geschwunden wäre. Die Volksvertretung hätte mehr Rechte erhalten. Von Volkssouveränität, gleichem Männerwahlrecht oder einer republikanischen Staatsform war allerdings nicht die Rede. Die gemäßigteren Liberalen organisierten sich nicht als Partei, pochten aber ebenfalls auf die Einhaltung des Haushaltsrechts.

 

Rudolf Virchow
Der Mediziner Rudolf Virchow gehörte 1861 zu den Mitbegründern der linksliberalen Fortschrittspartei. Gemälde von Hugo Vogel aus dem Jahr 1861. Quelle: http://www.kunsttexte.de/download/bwt/werner.pdf via Wikimedia Commons

 

1862 verschärfte sich der Konflikt. Auf Antrag eines Abgeordneten der DFP hin forderte die Mehrheit des Parlamentes die Regierung auf, die Posten im Militäretat aufzuschlüsseln und damit die Kosten für die Aufrüstung transparent zu machen. Die Regierung löste die Kammer auf, aber die Neuwahlen stärkten nur die Opposition. Im preußischen Kabinett gab es unterschiedliche Meinungen über das weitere Vorgehen. Während Kriegsminister von Roon einen harten Kurs forderte, tendierten andere Minister zu einem Kompromiss mit den Abgeordneten. Auch Kronprinz Friedrich, ein gemäßigter Liberaler, war bereit, auf die Verlängerung des Wehrdienstes zu verzichten.

Bismarck wird Ministerpräsident

Der König wollte abdanken, da er Zugeständnisse ablehnte. Friedrich wollte allerdings unter diesen Umständen den Thron nicht besteigen. Albrecht von Roon brachte einen neuen Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten ins Spiel: Otto von Bismarck. Bismarck sollte auf Wunsch seiner Eltern Jurist werden. Er absolvierte sein Universitätsstudium, brach aber den juristischen Vorbereitungsdienst ab. Nach Ableistung seiner militärischen Dienstzeit bewirtschaftete er ein landwirtschaftliches Gut. 1847 begann Bismarck, sich bei den Konservativen zu engagieren. Schon bald machte er als Vertreter des rechten Flügels der Partei auf sich aufmerksam. In Regierungskreisen stieß sein Radikalismus auf Skepsis. Der Junker schien für ein Regierungsamt lediglich im Ausnahmefall in Betracht zu kommen.

 

Bismarck
Otto von Bismarck als Ministerpräsident 1862. Aufnahme eines unbekannten Autors. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R15449 / CC-BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons

 

Bismarck trat in den diplomatischen Dienst ein. Er versuchte, sein reaktionäres Image abzustreifen. Von 1851 bis 1859 vertrat er Preußen beim Deutschen Bund in Frankfurt. Schnell machte er sich einen Namen als skrupelloser Vertreter seines Landes, der jedoch im persönlichen Umgang konziliant bleiben konnte. Bismarck kam zu der Auffassung, dass ein Machtkampf mit Österreich um die Vorherrschaft in Deutschland auf Dauer nicht zu verschieben war. Für ihn gab es nur ein legitimes Königshaus: die Hohenzollern. Mehrmals gelang es ihm in Frankfurt, diplomatische Initiativen Wiens abzuwehren – eine neue Haltung in der preußischen Außenpolitik. 1859 wurde er zum Botschafter in Russland ernannt. Drei Jahre später versetzte man ihn nach Paris.

Bismarck hatte schon im Mai 1862 auf die Ernennung zum leitenden Minister in Preußen gehofft. Doch er stieß bei Konservativen und Liberalen auf Ablehnung. Der neue Ministerpräsident „erweckte den Eindruck, jenseits aller ideologischen Rezepte, gleich welcher Gruppierung, zu stehen.“ (Clark, 2018, S. 595) Die Ehefrau des preußischen Königs und der Kronprinz befürchteten eine Eskalation des Verfassungskonflikts, falls Bismarck nach Berlin käme. Roon konnte schließlich Wilhelm I. dazu überreden, den Diplomaten zum Regierungschef zu berufen. Der Monarch traf Bismarck am 22. September 1862 in Babelsberg. Angeblich soll sich Wilhelm mit dem Gedanken an Rücktritt getragen haben. Bismarck traf geschickt die Stimmung des Monarchen und präsentierte sich als „kurbrandenburgischer Vasall“, der seinem König beistehen wolle.

Wilhelm hatte den Mann gefunden, den er suchte: einen hochintelligenten, geschmeidigen Machtpolitiker, der die Stellung der Krone festigen wollte.

Die Schwäche der Opposition

Bismarck machte nach seinem Amtsantritt sofort klar, dass er auch ohne Zustimmung des Parlaments die Heeresreform durchführen wollte. Der neue Ministerpräsident berief sich auf die „Lückentheorie“, ein Argumentationsmuster konservativer Juristen. Die Verfassung von 1848 ging davon aus, dass Gesetze nur mit Zustimmung der Regierung, des adligen Herrenhauses und des Parlaments zustande kämen. Sie enthielt in seinen Augen aber keine Regelung für den Fall, dass sich die drei Gewalten nicht einigen könnten. Bei Fragen, die die Existenz des Staates berührten, hätte deshalb die Regierung das Recht, auch ohne Zustimmung der beiden Kammern die nötigen Mehrausgaben für eine Armeereform zu vergrößern (vgl. Schoeps, 1981, S. 243). Im Gegensatz zu vielen Konservativen wollte er die Verfassung nicht abschaffen. Sein Ziel war es vielmehr, sie im Sinne der Regierung zu nutzen. Der Historiker Ernst Engelberg sprach von einem „verhüllten Staatsstreich“ (Engelberg, 1985, S. 533). Am 1. Juni 1863 schränkte der König per Erlass die Meinungsfreiheit ein. Drei Tage später distanzierte sich der Kronprinz in Danzig öffentlich von dieser Entscheidung. Wilhelm wollte seinen Sohn vor ein Kriegsgericht stellen, aber Bismarck verhinderte dies – nur die Opposition hätte davon profitiert. Der Kronprinz wohnte fortan den Sitzungen des Staatsrates schweigend bei.

Auch die liberale Kammermehrheit konnte Bismarck nicht zu einer Änderung seiner Politik zwingen. Die Verfassung bot ihr nur die Möglichkeit, im Plenum des Landtages zu protestieren und einem Gesetz die Zustimmung zu verweigern. Die DFP wollte die Rechte des Parlaments erweitern, aber keine Fundamentalopposition ausüben. Einem Machtpolitiker wie Bismarck war sie nicht gewachsen. Der Ministerpräsident hatte geschickt erkannt, dass die DFP bei allen Protesten ein Bündnis mit den noch existierenden demokratischen Gruppierungen und der aufstrebenden Arbeiterschaft ablehnte. Der kleine demokratische Flügel in der Fortschrittspartei hatte sich 1861 mit der Forderung nach dem gleichen Männerwahlrecht nicht durchsetzen können. Die Linksliberalen lavierten zwischen der konservativen Exekutive und einer immer größer werdenden demokratischen Opposition.

Es wäre falsch, der DFP nur Feigheit vorzuwerfen. Ein Bündnis mit der außerparlamentarischen Opposition wäre von der Regierung als Auftakt zum Bürgerkrieg gewertet worden. Die Monarchie verfügte mittlerweile über eine Armee von fast 200 000 Mann. Zweifelhaft ist, ob große Teile der Bevölkerung den Liberalen gefolgt wären. Auch ein Vertreter des linken Flügels der DFP wie Johann Jacoby, ein überzeugter Demokrat, trat nur für einen Widerstand mit gesetzlichen Mitteln ein. Schon diese Forderung führte dazu, dass die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermittelte. Außenpolitische Konflikte kamen Bismarck zur Hilfe.

1864 und 1866 führte Preußen zwei siegreiche Kriege gegen Dänemark und Österreich. Diese Situation nutzte Bismarck, um den Liberalen ein Kompromissangebot zu machen.

Die Indemnitätsvorlage und die Spaltung des Liberalismus

Am 3. Juli 1866 fanden in Preußen Landtagswahlen statt. Die Konservativen konnten 123 Mandate erreichen und damit einen großen Wahlsieg feiern. Sie lösten die DFP als stärkste Fraktion ab, die nur noch 83 Wahlkreise gewann. Die gemäßigten Liberalen stellten 65 Abgeordnete.

Am 23. August 1866 hatte Bismarck in Prag einen Frieden durchsetzen können, der Deutschland veränderte. Der Deutsche Bund wurde aufgelöst. Österreich schied aus der deutschen Politik aus. Preußen annektierte das Königreich Hannover, Nassau, Kurhessen, Schleswig-Holstein und Frankfurt. Mit einem Federstrich wurde die Dynastie der Welfen in Hannover ausgelöscht und der hessische Kurfürst entthront. Im konservativen Lager verlor Bismarck viele Freunde.

Der Ministerpräsident wollte die Gunst der Stunde nutzen und den Verfassungskonflikt beenden. Mitte August brachte er die „Indemnitätsvorlage“ ein. Die Regierung beantragte nachträglich die Zustimmung für die Haushalte von 1863 bis 1866. Am 3. September 1866 stimmten auch viele Liberale für das Gesetz.

Die Regierung konnte sich durchsetzen, weil mit Otto von Bismarck ein genialer Machtpolitiker an ihrer Spitze stand. Außerdem wollten die Liberalen keine Politik der Fundamentalopposition treiben.

Zwischen Bismarck und den Konservativen kam es jedoch zu einem Zerwürfnis, das bis in die Siebzigerjahre reichte. Natürlich wollten auch die ehemaligen Freunde des Ministerpräsidenten eine starke Armee. Aber es widersprach ihren dynastischen Überzeugungen, dass Könige und Fürsten 1866 abgesetzt wurden. Der Krieg gegen Österreich war bei den Konservativen nicht populär. Außerdem verübelten sie dem Ministerpräsidenten, dass er die Verfassung zumindest formal respektierte.

Der Verfassungskonflikt stärkte nicht nur die Krone. Dass Bismarck 1866 grundsätzlich das Haushaltsrecht des Parlaments anerkannte, begrüßten viele Liberale. Die Gründung eines deutschen Nationalstaates lag ebenfalls in ihrem Interesse.

Die liberale Bewegung in Preußen spaltete sich (vgl. Clark, 2018, S. 623). Die Unterstützer Bismarcks gründeten 1866 die Nationalliberale Partei. Bis 1918 sollte sie einen großen Einfluss auf die deutsche Politik haben. Der Verfassungskonflikt in Preußen bewies, dass Verfassungsfragen nur dann mit juristischen Methoden zu lösen sind, wenn beide Seiten dies wollen. Ansonsten werden sie zu Machtproben, bei denen sich diejenigen Kräfte durchsetzen, die über staatliche Machtmittel verfügen.

 

Zum preußischen Verfassungskonflikt siehe auch:

Ein liberaler Preuße — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

Zur Schlacht von Königgrätz:

Die Schlacht von Königgrätz — Dr. Katharina Kellmann (katharinakellmann-historikerin.de)

 

 

 

Literatur:

Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, 13. Aufl., München 2018

Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgründer, 2. Aufl., Berlin 1985

Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, 5. Aufl., Frankfurt/M., Berlin, Wien, 1981

Frank Lorenz Müller, der 99-Tage-Kaiser. Friedrich III. von Preußen. Prinz, Monarch, Mythos, München 2013

Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800 – 1866. Bürgerwelt und starker Staat, 2. Aufl., München 1984

Hans-Joachim Schoeps, Preußen, Geschichte eines Staates, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981

James Sheehan, Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770 – 1914, München 1983

Edmund Silberner, Johann Jacoby. Politiker und Mensch, Bonn-Bad Godesberg 1976