Dr. Katharina Kellmann

„Das ruhelose Reich“ von Michael Stürmer

„Das ruhelose Reich“ von Michael Stürmer, eine Überblicksdarstellung über das Kaiserreich, erschien 1983. In den siebziger Jahren hatte die Monographie von Hans-Ulrich Wehler die wissenschaftliche Diskussion bestimmt. Wehler hatte sich darin bewusst auf einen methodischen Ansatz konzentriert, der die Jahre zwischen 1871 und 1918 aus dem Blickwinkel der Innenpolitik analysierte. Dabei entstand ein kritisches Bild, das nicht unumstritten war, der Forschung jedoch neue Wege wies.

Noch in den siebziger Jahren galt der Primat der Innenpolitik als herrschende Meinung unter deutschen Historikern, die sich mit der Zeit zwischen 1871 und 1918 beschäftigten. Wehlers Kaiserreich, ein Buch, das Mitte der siebziger Jahre erschien, hatte das Kaiserreich als Betriebsunfall der europäischen Geschichte eingestuft, eine Station auf jenem verhängnisvollen deutschen Sonderweg, der schließlich in die Katastrophe des Nationalsozialismus mündete. Wehler zählte mit brillanter Genauigkeit Demokratiedefizite auf, die seiner Meinung nach eine konservative Historikerzunft immer verschwiegen hätte.

Michael Stürmer veröffentlichte kein Buch, in dem das Kaiserreich rehabilitiert wird. Er verband Strukturanalyse mit einer chronologischen Gliederung, die die Offenheit historischer Prozesse betonte. Neben den innenpolitischen Problemen berücksichtigte Stürmer auch die außenpolitischen Rahmenbedingungen.

Abschied vom deutschen Sonderweg

Insofern sind es nicht so sehr neue Tatsachen, sondern ein veränderter Blick auf die Jahre zwischen 1871 und 1918, die das Buch von Michael Stürmer zu einem Lesegenuss machen. Die Revolution von 1848 und der preußische Verfassungskonflikt hätten Tatsachen geschaffen, die auch die Herrschenden nicht ignorieren konnten. Gleichzeitig gab es keine demokratische Volksbewegung, die so stark war, dass sie eine grundlegende Veränderung der politischen Verhältnisse hätte erzwingen können:

„Das Ergebnis war eine Gestaltung Deutschlands, die die altpreußischen Eliten nicht als die ihre Erkennen mochten, die Achtundvierziger aber auch nicht. Nach dem Triumph der preußischen Armee über Österreicher und Franzosen, über Fortschrittspartei und innere Opposition, konnte sich der Staatsbau von 1871 schwerlich anders gestalten als paternalistisch und obrigkeitlich. Aber regiert wurde auf andere Weise. Was immer die Ziele, die Mittel waren Integration von Interessen und Sicherung von Brot und Arbeit, Aufhebung von Entfremdung, Prävention des Bürgerkrieges und Steuerung eines expandierenden politischen Massenmarktes.“ (S. 21)

Um die Jahrhundertwende war „die Staatsräson der Bismarckzeit als konservative Utopie“ gescheitert – so Stürmer. Die Entwicklung Deutschlands zu einer industriellen Großmacht führte dazu, dass Deutschland als Konkurrent auf dem Weltmarkt in Erscheinung trat. Deutschland – „Machtstaat in der Mitte“ – hätte einer politischen Führung bedurft, die in der Lage gewesen wäre, auf das Streben nach Hegemonie zu verzichten. Doch Außenpolitik war nicht mehr nur eine Politik der Kabinette. Die Diplomatie im Zeitalter „der pluralistischen Massengesellschaft“ schuf Sachzwänge, die in einer konstitutionellen Monarchie mit einem Reichstag, der nach dem gleichen Männerwahlrecht bestimmt wurde, nicht einfach ignoriert werden konnten. Michael Stürmer relativiert das Bild eines rückständigen Obrigkeitsstaates, mit dem nach 1968 eine ganze Generation von Historikern schwanger ging.

Keine Alternative zur „Weltpolitik“?

„Aber eine auf Selbstbeschränkung gestellte Politik, wie war sie zu begründen? Wie war sie durchzusetzen in der pluralistischen Massengesellschaft? Wie sollte die politische Führung symbolische Grenzen anerkennen, wo alles auf Entgrenzung drängte, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft, im geistigen Leben? So lag das deutsche Verhängnis jener Entscheidungsjahre weniger darin, wie viele Historiker meinen, dass die Deutschen in der Politik aggressiver, böser, maßloser gewesen wären als ihre Nachbarn. Dass sie so waren, kann mit Gründen bestritten werden. Ein Imperialismus war des andern wert.“ (S. 315)

Hätte es denn in der Innenpolitik Alternativen gegeben? Die stärkste Oppositionspartei im Kaiserreich, die SPD, verfolgte keine einheitliche Linie. Sie konnte bei den Reichstagswahlen 1912 ein Drittel der Stimmen für sich gewinnen; eine Mehrheit hatte sie nicht. Ihr Anführer, August Bebel (1840 bis 1913), besaß keine politische Strategie für die Machtübernahme, sondern stilisierte sich mit einer marxistisch eingefärbten radikaldemokratischen Rhetorik zu einem Gegenspieler Bismarcks.

„Bebel verfügte über ein untrügliches Gedächtnis für Menschen und Zahlen. Debatten bestritt er mit Polemik und zukunftsfrohem Pathos und, seitdem er Mitglied des Haushaltsausschusses des deutschen Reichstages geworden war, mehr und mehr auch mit imponierender Detailkenntnis von Haushalt und Gesetzgebung. Einem Adolphe Thiers (1797 bis 1877, bedeutender französischer Politiker, d. Verf.), einem William Gladstone (1809 bis 1898, mehrmaliger Premierminister in England, d. Verf.) gegenüber hätte Bebel ein anderer werden müssen. Wo er Bismarck zum Gegner hatte, wuchs er zum Arbeiter-Bismarck empor, dem Vorbild nach Durchsetzungswillen und üblem Stil der Menschenbehandlung nicht ungleich. Er verwaltete in der Partei eine Art Willens- und Meinungsmonopol für die Tagespolitik, und zugleich befriedigte er ihre Bedürfnisse nach visionärer Zukunftsgestaltung. Bebel war beides, und darin lag seine Stärke. Oligarch, Organisator, Stratege, aber auch Visionär, Verkörperung des Kampfes und Prophet des Sieges. Nur eins war er nicht: Pragmatiker, Entwerfer kleiner Schritte, Bohrer dicker Bretter.“ (S. 303)

Keine Mehrheit für Reformen

Es gab im Kaiserreich keine Mehrheit von Sozialdemokraten und Liberalen, die eine kaiserliche Regierung zu Reformen hätte zwingen können. Der größte Teil der Bevölkerung stand – bei Kritik an einzelnen Missständen – hinter der konstitutionellen Monarchie. Die Sozialdemokraten, vor allem ihr radikaler Flügel um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, waren isoliert. Die herrschenden Eliten im größten Bundesstaat, dem Königreich Preußen, lehnten Zugeständnisse ab. Es gab in der politischen Klasse des kaiserlichen Deutschlands keinen Politiker, der das Zeug gehabt hätte, eine parlamentarische Regierung zu führen.

Das kaiserliche Deutschland hatte viele Facetten: Den Aufbruch in die Moderne, den Eintritt der Massen in die Politik, den Beginn der staatlichen Sozialpolitik, aber auch die Bekämpfung, Ausgrenzung und Entrechtung der Arbeiterschaft; das Streben des wilhelminischen Bürgertums nach ‚Weltpolitik‘, die verhängnisvolle Entscheidung für den Flottenbau, von der kaiserlichen Regierung gewollt und von Teilen der Gesellschaft unterstützt – all dies macht das Kaiserreich aus. Michael Stürmer zeichnet ein differenziertes Bild der Jahre zwischen 1871 und 1918 und erweitert unseren Blick auf diese Epoche.

Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866 – 1918, Berlin 1998 (Siedler, Deutsche Geschichte). Taschenbuchausgabe des 1983 erstmalig erschienen Werkes.