Dr. Katharina Kellmann

Hessen will die Landesverfassung ändern

Hessen will die Landesverfassung ändern. Der folgende Sachverhalt soll zeigen, wie die Staatszielbestimmungen in der Rechtsanwendung eine Rolle spielen.

Im Bundesland Hessen plant die Regierung eine Änderung der Landesverfassung. Sie legt dem Landtag einen Entwurf für ein verfassungsänderndes Gesetz vor, das drei Neuerungen enthält.

1.) Die Minister der Landesregierung müssen einzeln vom Landtag mit der Mehrheit der Mitglieder bestätigt werden. Der Landtag hat außerdem die Möglichkeit, einen Minister mit der Mehrheit seiner Mitglieder abzuwählen.

2.) Jeder, der das 18. Lebensjahr vollendet hat, muss sich einer staatsbürgerlichen Prüfung unterziehen, wenn er das aktive Wahlrecht erhalten möchte.

3.) Der Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt (früher Sozialhilfe) wird auf einen Zeitraum von einem Jahr begrenzt.

Die hessische Landesregierung begründet ihr Vorhaben mit dem Ziel, mehr Demokratie zu wagen und die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger zu fördern. Wenn der Landtag aus seiner Mitte heraus einen unfähigen Minister abwählen könne, dann sei ja der Einfluss der Volksvertretung gestärkt.

Die staatsbürgerliche Prüfung sei so angelegt, dass in wertneutraler Form einfache Fragen zur Verfassung, zur Geschichte und zu Gegenwartsproblemen gestellt würden. So sei sichergestellt, dass das Wahlrecht verantwortungsvoll ausgeübt werde. Nur derjenige könne Staatsbürger sein, der sich auch in seinem Gemeinwesen auskenne. Von Ausländern verlange man ja auch einen Einbürgerungstest.

Die Begrenzung staatlicher Transferleistungen entspreche dem Prinzip des aktivierenden Sozialstaates. Der Leistungsempfänger würde so motiviert, sich wieder in das Erwerbsleben zu integrieren. Für Alte und Kranke sehe das Gesetz die Möglichkeit eines Hilfegesuches an einen Landessozialfonds vor. Außerdem existierte eine Vielzahl von gesellschaftlichen Hilfeeinrichtungen, die in Hessen besonders steuerrechtlich gefördert würden.

Der hessische Landtag stimmt mit der erforderlichen Mehrheit der Verfassungsänderung zu.

Stünde dieses Gesetz im Einklang mit dem Grundgesetz?

Lösungsvorschlag:

Hier haben wir es mit einer Verfassungsänderung in einem Bundesland zu tun. Da stellt sich die Frage, wo der Bezug zum Grundgesetz liegt. Als Einstieg muss man also nach einer Norm suchen, die etwas über das Verhältnis von Bundesverfassungsrecht und Landesverfassungsrecht aussagt.

Dabei könnte Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG weiterhelfen. Danach muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. Diese Verfassungsbestimmung nennt man Homogenitätsklausel. Sie soll sicherstellen, dass es in einem Bundesstaat Schnittmengen zwischen dem Bund und den Ländern gibt. Zum Wesen der Bundesstaatlichkeit gehört der Wettbewerb, aber wenn sich die Länderverfassungen zu weit vom Grundgesetz entfernen, würde dies dem Föderalismus ebenfalls nicht entsprechen.

Es ist zu prüfen, ob die Verfassungsänderung sich innerhalb der Grenzen bewegt, die Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG vorgibt.

Nach Art. 28 Abs.1 Satz 1 GG muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen. Das Land Hessen hat also bei Verfassungsänderungen die Grundsätze des Art. 20 GG zu beachten. Dies bedeutet nicht, dass das Grundgesetz völlig deckungsgleich übernommen wird, denn die Staatszielbestimmung Bundesstaat soll ja gerade eine föderale Vielfalt ermöglichen. Länderspezifische Abweichungen haben sich aber an die Grenzen zu halten, die das Grundgesetz zieht.

Punkt 1 betrifft das Demokratiegebot nach Art 20 Abs. 2 GG. Demokratie bedeutet, dass die Macht vom Volke ausgeht, dass Vertreter wählt, die dann im Namen des Volkes herrschen. Dazu gehören auch Wahl und Abwahl einer Regierung. Das Grundgesetz kennt keine Wahl oder Abwahl eines Bundesministers. Der Bundespräsident ernennt auf Vorschlag des Bundeskanzlers – der vom Parlament gewählt wird – die Ressortchefs. Die neue hessische Landesverfassung weicht also vom Grundgesetz ab.

Fraglich ist, ob hier gleich ein Verstoß gegen Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG zu erkennen ist. Sowohl im Bund wie auch in den Ländern muss das Demokratiegebot gewahrt sein. Indem die neue hessische Verfassung die Kontrollrechte des Landtags erweitert, gibt sie den Volksvertretern mehr Rechte innerhalb einer repräsentativen Demokratie. Damit verstößt sie nicht gegen die Homogenitätsklausel, die ja gerade landesspezifische Ausgestaltungen des Art. 20 GG ermöglicht. Punkt 1 der neuen hessischen Verfassung stimmt mit dem GG überein.

Punkt 2 berührt das Wahlrecht, das ebenfalls zu den Kernbestandteilen des Demokratiegebots gehört. Im GG bestimmt Art. 38 GG, dass die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, gleicher, freier und geheimer Wahl bestimmt werden sollen. Diesen Grundsätzen muss auch jedes Landeswahlrecht genügen.

Punkt 2 könnte gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl verstoßen. Allgemeinheit der Wahl bedeutet, dass niemand aus wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder sonstigen diskriminierenden Gründen vom Wahlrecht ausgeschlossen werden darf. Ausnahmen von diesem Grundsatz müssen in der Verfassung geregelt sein oder können sich als besonders rechtfertigende Gründe auch durch Auslegung der Verfassung ergeben.

In einer repräsentativen Demokratie herrscht das Volk nicht direkt, sondern ist Träger der Staatsgewalt. Umso wichtiger sind Wahlrechtsbestimmungen, die eine Teilhabe des Bürgers am politischen Prozess ermöglichen. Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl soll möglichst vielen Menschen diese Teilhabe ermöglichen. Die hessische Regelung birgt die Gefahr in sich, dass Menschen davon ausgeschlossen bleiben. Das Grundgesetz knüpft die politische Reife nicht an staatsbürgerliche Kenntnisse. Der demokratische Prozess soll sicherstellen, dass Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip fallen. Ob diese Entscheidungen richtig sind, steht auf einem anderen Blatt. Sicher ist es zu begrüßen, wenn Wähler bewusst von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Doch das Bestehen eines staatsbürgerlichen Tests garantiert keine staatsbürgerliche Reife und nur schwerwiegende Gründe können eine Ungleichbehandlung beim Wahlrecht, wie in Hessen, rechtfertigen. Der Vergleich mit dem Einbürgerungstest ist nicht stichhaltig.

Punkt 3 könnte gegen das Sozialstaatsgebot verstoßen, an dem sich auch die Länderverfassungen zu orientieren haben. Das Sozialstaatsgebot umfasst auch die staatliche Fürsorge für Hilfsbedürftige, die nicht für ihren Lebensunterhalt alleine aufkommen können. Eine zeitliche Befristung ist dabei nicht vorgesehen. Der Staat kann sich in diesem Punkt nicht darauf berufen, dass es gesellschaftliche Hilfsangebote gibt. Ältere Menschen an einen Hilfsfond zu verweisen, widerspricht ebenfalls dem Sozialstaatsgebot. Es enthält einen Gesetzgebungsauftrag an den Staat, Bedürftigen zu helfen. Die frühere Praxis des „Armenrechts“ sollte abgeschafft werden, da sie den Menschen zum Bittsteller degradierte.

Punkt 2 und 3 des Gesetzes verstoßen gegen Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG. Punkt 1 des Reformpakets – die Wahl der Minister und die die Abwahl von Ministern – verstößt nicht gegen höherrangiges Bundesrecht.