Dr. Katharina Kellmann

Die Staatszielbestimmung Demokratie

Die Staatszielbestimmung Demokratie legte die Regierungsform fest. Nach dem Grundgesetz muss die Bundesrepublik demokratisch regiert werden.

Das Wort Demokratie steht für ganz unterschiedliche Modelle politischer Herrschaft, die eines gemeinsam haben: Eine Regierung wird von den Regierten legitimiert. Herrschaft in einem demokratischen System vollzieht sich von unten nach oben. Demokratie ist Macht auf Zeit.

Die Wahlbeteiligungen bei Bundes- und Landtagswahlen gehen seit Jahren zurück oder stagnieren. Erst bei den Landtagswahlen im Frühjahr 2016 machten wieder mehr Menschen von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Dennoch ist die Zahl der Nichtwähler nach wie vor sehr hoch.

Seit einigen Jahren verändert sich das Parteiensystem. Regierungsbildungen werden immer schwieriger. In Zukunft wird es wohl häufiger Koalitionen geben, die aus drei Parteien bestehen.

In diesem Artikel geht es um die Frage, was Verfassungsjuristen unter Demokratie verstehen. Im Grundgesetz heißt es in Art. 20. Abs. 1 GG: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.

Art. 20 Abs. 2 GG bezieht sich auf die Staatszielbestimmung Demokratie: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Was bedeutet das im Einzelnen?

Das Volk ist Träger der Staatsgewalt in einer repräsentativen Demokratie

Art. 20 Absatz 2 GG bestimmt, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Diese Staatsgewalt, heißt es im nächsten Satz, wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.

Die Bundesrepublik Deutschland ist eine repräsentative Demokratie. Das Volk bestimmt in Wahlen das Parlament. Dieses Parlament wählt den Bundeskanzler. Das Parlament wirkt an der Gesetzgebung mit. Die Abgeordneten des Bundestages sind Mitglieder der Bundesversammlung und nehmen an der Wahl zum Bundespräsidenten teil. Zusammen mit dem Bundesrat bestimmen sie die Richter am Bundesverfassungsgericht.

Der Wahlbürger ist nur indirekt an diesen Entscheidungen beteiligt. Das Volk ist Träger der Staatsgewalt, übt sie aber nicht direkt aus. Das Demokratiegebot des GG bleibt jedoch gewahrt, weil der Bundestag, der diese Entscheidungen trifft, eine demokratische Legitimation hat. Juristen sprechen hier von einer „ununterbrochenen Legitimationskette zum Volke“. Dies bedeutet, dass alle mit der Staatsgewalt betrauten Organe sich letztlich auf ein Organ zurückführen lassen müssen, dass vom Wahlvolk bestimmt wird.

Die Entscheidung für die repräsentative Demokratie spiegelt das Misstrauen wieder, das der Parlamentarische Rat, der 1948/49 das Grundgesetz ausarbeitete, gegen die direkte Demokratie empfand. In der Weimarer Reichsverfassung waren plebiszitäre Elemente stärker verankert gewesen. Gerade verfassungsfeindliche Kräfte versuchten immer wieder, daraus Kapital zu schlagen und machten gegen die Weimarer Republik im wahrsten Sinne des Wortes mobil. Nur in wenigen Fällen, so in Art. 29 GG (Neugliederung des Bundesgebiets), kann das Volk direkt mitbestimmen.

Die Ausübung der Staatsgewalt durch besondere Organe nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG ist also die Regel und genießt Vorrang. Damit das Volk auch wirklich Träger der Staatsgewalt bleibt, müssen in regelmäßigen und nicht zu großen Abständen Wahlen stattfinden. Die Wähler haben dann die Möglichkeit, ihre Vertreter neu zu bestätigen oder abzuwählen.

Diese Grundsatzentscheidung für eine repräsentative Demokratie hat wichtige Folgen für die Konkretisierung des Demokratiegebots.

Demokratische Wahlgrundsätze

Wenn Bürger nur an der Wahlurne direkt Einfluss ausüben können, kommt der Ausgestaltung des Wahlrechts eine hohe Bedeutung zu. In den ersten deutschen Parlamenten, die sich im frühen neunzehnten Jahrhundert bildeten, war es üblich, das Wahlrecht an bestimmte Voraussetzungen zu knüpfen. Der Wahlbürger musste Vermögen haben und (oder) eine bestimmte Steuersumme entrichten. Man spricht hier vom Zensuswahlrecht.

Hinter dieser Ansicht stand die Auffassung, dass nur derjenige, der zum Gemeinwohl beiträgt und über ein gewisses Maß an Bildung verfügt, seine Stimme abgeben kann. Hinzu kam, dass die meisten Wahlverfahren keine geheime Wahl kannten und die Stimme öffentlich abgegeben werden musste. Dieses Wahlrecht begünstigte den Adel und das wohlhabende Bürgertum. Das Kleinbürgertum, viele Bauern, das ländliche Proletariat und die entstehende Arbeiterschaft wurden so von der Teilhabe am politischen Prozess ausgeschlossen, eine Entwicklung, die man auch in anderen europäischen Ländern im 19. Jahrhundert beobachten konnte. England, nicht selten als „Mutterland der Demokratie“ betrachtet, gewährte nur allmählich einem Teil seiner Bürger das Wahlrecht.

Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, das niemanden aufgrund seiner sozialen Stellung, seines Geschlechts oder seines niedrigen Bildungsstandes ausschloss, wurde zuerst von radikaldemokratischen und frühsozialistischen Kräften gefordert, während das liberale Bürgertum oder der konservative Adel eine „Herrschaft des Pöbels“ fürchteten.

Diese geschichtlichen Erfahrungen sind zu berücksichtigen, wenn man sich die in Art. 38 GG niedergelegten Wahlgrundsätze betrachtet.

Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG besagt, dass die Abgeordneten in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden müssen. Das sind Vorgaben, die jedes Wahlgesetz zu beachten hat.

Was bedeutet das?

Allgemein bedeutet, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Rasse, seiner Religion oder seiner Bildung vom Wahlrecht ausgeschlossen werden kann. Einschränkungen sind nur zulässig, wenn es sachliche Gründe dafür gibt. Als solcher gilt beispielsweise ein gewisses Mindestalter. Auch der Ausschluss Geisteskranker ist gerechtfertigt. Es geht also um Einschränkungen, die gemacht werden müssen, weil die Ausübung des Wahlrechts einen bestimmten Reifegrad oder die Fähigkeit zur Wahrnehmung eigener Interessen voraussetzt.

Unmittelbar bedeutet, dass es zwischen dem Wähler und dem Gewählten keine Wahlmänner geben darf.

Frei bedeutet, dass jeder sein Wahlrecht ohne staatlichen Zwang ausüben darf. Freiheit der Wahl schließt auch das Recht ein, sich der Stimme zu enthalten.

Gleichheit der Wahl bedeutet, dass jede Stimme den gleichen Zählwert hat. Eine Einteilung nach Vermögen oder Besitz, die dazu führt, dass die Stimme eines Vermögenden mehr Einfluss hat als die eines Mittellosen, verstößt gegen das GG.

Geheim bedeutet, dass der Wähler bei der Stimmabgabe nicht beobachtet werden kann.

Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz

Demokratie bedeutet, dass Entscheidungen im Bereich der Staatswillensbildung nach dem Mehrheitsprinzip fallen. Das GG bekennt sich an mehreren Stellen ausdrücklich dazu. So legt die Verfassung beispielsweise fest, dass der Bundespräsident von der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung gewählt werden muss. Bundeskanzler kann man ebenfalls nur werden, wenn man nach Art. 63 Abs. 2 GG die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt.

Allerdings kann das Mehrheitsprinzip auch missbraucht werden. Die Mehrheit könnte die Minderheit unterdrücken. Deshalb gibt es den Minderheitenschutz. Minderheitenschutz bedeutet, dass man ein Recht auf Opposition hat. Die Minderheit hat in einer Demokratie Entscheidungen der Mehrheit zu respektieren; die Mehrheit darf ihre Machtfülle nicht dazu missbrauchen, um die Opposition zu unterdrücken. Jede Minderheit muss im demokratischen Wettbewerb zumindest die Chance haben, Mehrheit werden zu können. Es wäre verfassungswidrig, die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages so abzuändern, dass Vertreter der Opposition gar nicht mehr im Plenum des Parlaments zu Wort kommen könnten.

Der Minderheitenschutz gibt Splitterparteien aber keine Handhabe, einen Anspruch auf Förderung geltend zu machen. Demokratie ist ein Wettbewerb der Ideen. Neue politische Kräfte müssen sich auf dem politischen Markt durchsetzen. Die Beispiele der Grünen, der Linkspartei oder der Alternative für Deutschland beweisen, dass neue politische und soziale Bewegungen eine Chance haben, wenn hinter ihnen gesellschaftliche Kräfte stehen.

Im Wahlrecht zum Deutschen Bundestag gibt es die 5 %-Hürde: Eine Partei muss wenigstens 5 % der Zweitstimmen oder drei Direktmandate erhalten, um in den Bundestag einziehen zu können. Eine Partei wie die FDP konnte zwischen 1949 und 2013 nur ganz selten ein Direktmandat gewinnen; sie schaffte mit ihrem Anteil an Zweitstimmen den Einzug in das Parlament.

Diese Regelung soll verhindern, dass ein Parteiensystem mit vielen Kleinparteien entsteht. Diese Parteienzersplitterung erschwert die Regierungsbildung. Mit der 5 %-Hürde ist das deutsche Wahlrecht einen Kompromiss eingegangen: Kleine Parteien haben eine Chance, wenn sie wenigstens 5 % der Zweitstimmen erreichen. Auf der anderen Seite ist eine gewisse Stabilität des Regierungssystems gewährleistet. Eine demokratische Staatsordnung funktioniert nur, wenn es auch eine stabile Regierung gibt, die Entscheidungen treffen kann.

Mehrparteiensystem und Parteienfreiheit

Parteien haben in der Bevölkerung keinen guten Ruf, aber sie stellen in einer repräsentativen Demokratie ein wichtiges Mittel für den Bürger dar, um am politischen Prozess teilzunehmen. Noch während des Kaiserreiches oder der Weimarer Republik wurden Parteien in den Verfassungen gar nicht erwähnt. Mit dem Artikel 21 hat das Grundgesetz hier Abhilfe geschaffen.

Nach Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG ist ihre Gründung frei. Parteien sind demnach Zusammenschlüsse von Bürgern, die sich in der Gesellschaft organisieren und dabei das Ziel verfolgen, auf die staatliche Willensbildung einzuwirken. Dies nennt man Parteienfreiheit. Damit sie in einem demokratischen System ihrer Mitwirkungsfunktion genügen können, müssen sie auch im Inneren nach Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG demokratisch strukturiert sein. Jede Parteiführung benötigt also eine Legitimation durch die Parteimitglieder.

Ein echtes Mehrparteiensystem, das dem Wähler inhaltliche Alternativen anbietet, ist unerlässlich für eine demokratische Staatsordnung. Jedes Gesetz, das die Parteienfreiheit in unverhältnismäßiger Weise einschränkt, verstößt damit gegen das Demokratiegebot in Art. 20 Abs. 1 GG. Parteien müssen sich in der Bundesrepublik nicht in ein Parteienregister eintragen lassen. Vor einer Bundes- und Landtagswahl haben sie lediglich beim Bundes- bzw. Landeswahlleiter die Zulassung zur Wahl zu beantragen. Zur Bundestagswahl 2013 wurden in den 16 Ländern insgesamt 233 Landeslisten von 30 Parteien zugelassen. 2705 Personen bewarben sich in 299 Wahlkreisen.

Die Kommunikationsgrundrechte

Demokratie setzt Meinungsfreiheit voraus. Nur wer seine Ansichten frei aussprechen kann, hat die Möglichkeit, andere für seine Überzeugungen zu gewinnen oder seine abweichende Meinung kundzutun. Nur wer mit anderen zusammen Interessen artikulieren darf, hat die Chance, in unserer pluralistischen Gesellschaft etwas durchzusetzen. Der Meinungsfreiheit (Artikel 5 GG) und die Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) kommt dabei eine hohe Bedeutung zu.

Das Prinzip der wehrhaften Demokratie 

Demokratische Freiheiten können von Gegnern der Demokratie missbraucht werden. Unsere Verfassung will dies verhindern. Art. 21 Abs. 2 GG sieht deshalb die Möglichkeit vor, Parteien mit verfassungsfeindlichen Zielen oder verfassungsfeindlichen Aktivitäten zu verbieten. Die Entscheidung obliegt dem Bundesverfassungsgericht, das auf Antrag hin tätig wird.

In der Geschichte der Bundesrepublik machte das höchste Gericht zweimal von dieser Möglichkeit Gebrauch. 1952 verbot es die neonationalsozialistische Reichspartei und 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands.

Unproblematisch ist die Möglichkeit des Parteienverbots nicht. Letztlich hat eine Verfassung nur dann Bestand, wenn eine große Mehrheit in der Bevölkerung die verfassungsmäßige Ordnung bejaht.

Art. 21 Abs. 2 GG signalisiert nach außen, dass die bundesdeutsche Demokratie sich als „wehrhafte Demokratie“ versteht. Diese Signalwirkung macht die Bedeutung des Parteiverbots aus.

Das Demokratiegebot und die Europäische Union

Winston Churchill (1874 bis 1965), der zweimalige britische Premierminister, sagte am 11. November 1947 vor dem britischen Unterhaus: „Niemand behauptet, dass Demokratie perfekt ist oder der Weisheit letzter Schluss. In der Tat wurde gesagt, dass Demokratie die schlechteste Regierungsform ist, mit Ausnahme all der anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert wurden.“

Zum Glück scheint in Deutschland im Augenblick der weitaus größte Teil der Gesellschaft keine Lust auf Experimente zu haben. Wohl aber gibt es Veränderungen im Parteiensystem. Mit der „Alternative für Deutschland“ ist eine neue Partei entstanden, die keine Eintagsfliege bleiben wird. Man mag zu dieser neuen Kraft stehen, wie man will (mir fällt dazu nur Volker Pispers ein, der von Analphabeten für Deutschland sprach), aber Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass politischer Wettbewerb herrscht. Unsere Verfassung – vor allem das Demokratiegebot – steckt den rechtlichen Rahmen ab. Was innerhalb dieses Rahmens passiert, ist Angelegenheit der Bürger.

Müssen wir um den Bestand unserer Demokratie bangen? Die Gefahr droht in meinen Augen nicht von links- oder rechtsextremen Parteien.

Für mich gibt es zwei Gründe, die Anlass zu Sorgen bereiten. Zum einen die Zahl der Nichtwähler und zum anderen die Verlagerung von immer mehr Kompetenzen an die Europäische Union. Demokratie bedeutet, dass das Volk – das Staatsvolk – Träger der Souveränität ist. Wenn sich politische Entscheidungsprozesse immer mehr nach Brüssel verlagern, dann wächst in meinen Augen das Gefühl der Entfremdung im politischen System.

Das ist kein Plädoyer für nationale Sonderwege. Die europäische Integration ist – im Guten wie im Schlechten – so weit fortgeschritten, dass dafür auch kein Raum bliebe. Und dass der Gedanke eines Krieges zwischen Deutschland und Frankreich oder zwischen Belgien und den Niederlanden heute absurd erscheint, ist sicher auch das Verdienst von Politikern wie Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Jean Monnet oder Alcide De Gasperi, Politikern, die nach dem Zweiten Weltkrieg die europäische Zusammenarbeit auf den Weg brachten. Diese Zusammenarbeit ist aber nur auf bestimmten Gebieten zwischen Nationalstaaten möglich. Eng verbunden mit der Idee des Nationalstaates ist die repräsentative Demokratie. Wenn dieser Nationalstaat nun allmählich in einer Europäischen Union aufgeht, deren Identität und Stabilität höchst zweifelhaft sind, dann verliert ein Staatsvolk seine Souveränität, dann erlischt die repräsentative Demokratie. Mag es auch gesamteuropäische Wahlen geben – die ausführenden Organe entfernen sich immer weiter vom Ursprung ihrer Legitimation – dem Bürger. Dieser schleichende Legitimationsverfall gefährdet unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Und wenn man das Demokratiegebot in unserer Verfassung ernst nimmt, dann setzt der Art. 20 Abs. 2 GG ein Stoppschild in Richtung eines vereinten Europa, in dem die wichtigen Entscheidungen nur noch in Brüssel fallen.

Stoppschilder sind unbeliebt; wir geben uns liberal, aufgeklärt, wir möchten „gute Europäer“ sein – wie unsere Politiker oft sagen. Das sollten wir auch – gute Nachbarn, die ihre demokratische Verfassung zu schätzen wissen, die andere nicht belehren oder bevormunden wollen. Die ihre eigenen Angelegenheiten regeln und das, was uns an Souveränität im eigenen Hause verblieben ist, verteidigen. Das Demokratiegebot nach Art. 20 GG verpflichtet uns dazu.